Die Droge Verwöhnung
Wir sind in einer Privatschule in Sao Paolo Brasilien. Die Schule ist umzäunt, insgesamt 15 bewaffnete Wachleute sichern das Areal. Beim mächtigen Eingangstor laden die Chauffeure im Minutentakt in grossen Wagen mit verdunkelten Scheiben die Kinder der gut situierten Eltern aus. Mitten in der Stadt: die große Armut. Neben den Kindern der Reichen besuchen 1000 Kinder aus Favelas die Schule.
Es ist eine sonderbare Stimmung. Überall spürt man die Angst. Die Taxi-Chauffeure kennen nur ein Thema: "Here - very dangerous.", "Here not so dangerous." Ein Gefühl der Bedrohung begleitet durch den Alltag. Jeder Wohnkomplex ist verriegelt, wird bewacht. Man ist umgeben von Kameras und Stacheldraht.
Am fünften Tag sehe ich in der Stadt zum ersten Mal ein Kind an der Hand des Vaters. Sonst sieht man nur Erwachsene - die rasch die Straßenseite wechseln, wenn man nach dem Weg fragen will.
Fabian wurde eingeladen, die Lehrpersonen zu schulen. Die Inhalte, die wir vorbereitet hatten, passen nur so halb. Die Lehrpersonen, die pro Woche zwischen 50 und 60 Lektionen Unterricht (!) geben, nehmen jedoch jeden Impuls gerne auf. Aber die Themen, die sie am stärksten beschäftigen, können wir kaum aufgreifen.
Eine Lehrerin beschreibt ein Beispiel: Ein Neunjähriger arbeitet nicht mit und macht die Hausaufgaben nicht. Fabian schildert, wie man in der Schweiz reagieren würden. Sie meint: "Das können wir hier nicht machen. Als ich die Mutter darauf angesprochen habe, dass sich ihr Sohn keine Mühe gibt und die Hausaufgaben nicht erledigt, schimpfte sie mit der Nanny, die neben ihr saß. Diese würde ständig vergessen, ihrem Sohn die Sachen einzupacken. Danach beschwerte sie sich beim Rektor über mich - ich würde ihren Sohn benachteiligen."
Die Lehrerinnen üben mit den Kindern, sich die Jacke und die Schuhe anzuziehen - in der Grundschule, nicht im Kindergarten. Die Kinder sind es schlicht gewohnt, sich am Morgen mit ausgestreckten Armen aufs Bett zu stellen, während die Nanny sie anzieht.
Über viele Beispiele wird klar, wo ein Hauptproblem liegt: Verwöhnung.
Während sich die Eltern der Favela-Kinder kaum einen Geburtstagskuchen leisten können, schmeißen die Eltern der reichen Kinder Geburtagsfeste für umgerechnet 15'000.- Franken.
Dennoch weiß ich, Fabian, nicht, mit welchen dieser Kinder ich mehr Mitleid habe. Die gut situierten Kinder sehen ihre Eltern kaum. Stattdessen kümmern sich Nannys und Chauffeure um sie. Das Personal darf die Kinder aber nicht erziehen, sondern nur betreuen und bei Laune halten. Im Zweifelsfall sagt das Kind, wo es langgeht. Die Kinder leben in einem goldenen Käfig, haben scheinbar alles, können sich aber nicht frei bewegen, wirken beziehungs- und orientierungslos.
Manchmal begegnen uns solche Eltern und ihre Kinder auch in Deutschland und der Schweiz. Eltern, die davon ausgehen, dass ihr Kind viel besonderer ist als andere und entsprechend behandelt werden muss. Die im Elterngespräch fordernd auftreten, die Schule als Dienstleister sehen, Ansprüche geltend machen und mit dem Anwalt drohen.
Die Kinder wirken oft egoistisch, manchmal ebenfalls fordernd und aggressiv. Gleichzeitig sind sie unsicher und haben kaum Selbstvertrauen. In der Schule sind sie plötzlich in einer Welt, in der sich nicht mehr alles um sie und ihre Wünsche dreht. Die anderen Kinder und die Lehrperson kommen ihren laut geäußerten Forderungen nicht nach. Die bestimmende Haltung, die diese Kinder im Spiel an den Tag legen, schreckt Gleichaltrige ab. Den Forderungen der Lehrperson können sie nicht nachkommen. Sie werfen verzweifelt das Handtuch, wenn sie etwas nicht sofort können, verweigern sich, wenn man sich zu wenig um sie kümmert. Sie fühlen sich gekränkt und ungerecht behandelt.
Verwöhnende Eltern reagieren auf solche Probleme oft, indem Sie dem Kind auch diese Hindernisse aus dem Weg räumen. Die Privatschule soll es richten. Andere Kinder werden mit dem neusten Spielzeug oder einem ausgeklügelten Freizeitprogramm ins Haus gelockt. Später wird bei schlechten Noten Rekurs eingelegt. Mit Arztzeugnis und Anwalt wird eine dritte oder vierte Chance auf eine Prüfung erkämpft, nachdem das nun "erwachsene" Kind sich auf die vorigen Versuche nicht vorbereitet hat.
Verwöhnte Kinder sind nicht für das Leben gewappnet. Sie haben hohe Ansprüche, gleichzeitig aber kaum Fertigkeiten entwickelt, um ihr Leben nach ihren Ansprüchen zu gestalten. Doch was genau ist Verwöhnung?
Verwöhne ich mein Kind?
Zum Thema Verwöhnung kursieren problematische Vorstellungen, die Ängste und Unsicherheit bei den Eltern auslösen.
Ein Kind wird nicht verwöhnt, wenn man ihm das gibt, was es braucht. Eltern dürfen:
- ihr Kind trösten, wenn es weint
- den Nachwuchs bei sich im Bett schlafen lassen
- hingerissen sein vom eigenen Kind und darüber staunen, was es schon alles kann und gelernt hat
- ein ehrliches Lob aussprechen und Wertschätzung zeigen
- dem Kind gegenüber warm und offen bleiben, auch wenn es sich schwierig verhält
- mal für das Kind in die Bresche springen oder ihm etwas abnehmen
Ein Kind, das im Kaufhaus weint, weil es etwas nicht haben kann, braucht Eltern, die es in den Arm nehmen und sagen: "Ich weiß, das hättest du gerne gehabt." Es braucht nicht Eltern, die nachgeben und sagen: "Dann kaufen wir das halt!" und danach sauer auf das Kind sind.
Kinder benötigen Zeit und Raum, um ihren Gedanken nachzuhängen, etwas zu beobachten oder unbegleitet mit anderen Kindern zusammenzusein. Sie benötigen kein teures, durchstrukturiertes Freizeitprogramm mit Privatkursen und Angebote, die mit "sinnvollen Beschäftigungen für die Ferien" werben.
Kinder benötigen Erwachsene, die ihnen zutrauen, dass sie Probleme lösen können und sie dabei begleiten. Sie brauchen keine Eltern, die ihnen alle Hürden aus dem Weg räumen.
Kinder brauchen Eltern, die sich Zeit nehmen, sich auf sie einlassen, zuhören und Interesse zeigen. Sie benötigen keine Erwachsene, die über teure Geschenke und ständig neue Freizeit-Aktivitäten versuchen, das Kind an sich zu binden.
Kinder brauchen Eltern, die sie lieben und sie so annehmen können, wie sie sind. Sie brauchen keine Eltern, die ihnen ständig sagen, wie besonders und außergewöhnlich sie sind und ihnen damit das Gefühl geben, dass man nur liebenswert ist, wenn man speziell ist.
Kinder brauchen Eltern, die ihnen liebevoll vermitteln, dass man durch Geduld, Anstrengung, Übung und Hartnäckigkeit zu etwas kommt. Sie benötigen keine Eltern, die ihnen einbläuen, dass man ein Recht darauf hat, dass sich die Welt nach den eigenen Wünschen richtet.
Kinder benötigen Eltern, die den Mut haben, sie eigene Erfahrungen sammeln zu lassen. Sie brauchen keine Eltern, die ständig sagen: "Dafür bist du noch zu klein.", "Das ist zu gefährlich", "Das ist zu schwierig".
Prof. Jürg Frick beschreibt in seinem Buch "Die Droge Verwöhnung", dass verwöhnende Eltern ihrem Kind:
- wenig zutrauen und es vor der Welt beschützen möchten
- zu viel abnehmen, das es selbst bewältigen kann
- mit Bewunderung begegnen und ihm das Gefühl geben, wertvoller und besser als andere zu sein
- alle Hürden aus dem Weg räumen und ihm jeden Frust ersparen
- nicht vermitteln, dass es sich anstrengen muss, wenn es etwas erreichen möchte
- alle Wünsche erfüllen und ihm keine Grenzen setzen
- ständig nachgeben und es mittels Belohnungen bestechen, wenn sie etwas von ihm wollen
Benjamin stellt sich der Realität
Benjamin erscheint zum ersten Termin 15 Minuten zu spät. Darauf angesprochen reagiert er mit einem "Sorry" und einem spitzbübischen Lächeln. Er wirkt sympathisch und macht einen cleveren Eindruck. Die Beraterin findet rasch einen guten Zugang und hat bald das Gefühl einer gelungenen Arbeitsbeziehung. Bereits in der ersten Sitzung können sie sich auf konkrete Ziele einigen. Benjamin stellt glaubwürdig dar, dass er die Nachholprüfung unbedingt bestehen möchte. Er scheint offen zu sein für neue Lernstrategien, einen realistischen Lernplan und kann das eigene Lern- und Arbeitsverhalten offenbar kritisch reflektieren.
Das Lerncoaching nimmt Fahrt auf. Die Lernberaterin und Benjamin sind in einem guten Austausch und können verschiedene Herangehensweisen diskutieren. Erst nach und nach offenbaren sich Schwierigkeiten. Auf die Frage, was er aus der letzten Sitzung im Alltag umsetzen konnte und wie die Übung für zu Hause verlaufen ist, reagiert Benjamin ausweichend. Stellt die Lernberaterin eine Lernstrategie vor, erklärt er ausschweifend, weshalb gerade diese Methode für ihn "nicht so ganz das Richtige" ist. Die Lernberaterin gibt sich noch mehr Mühe - sie wartet mit neuen Strategien auf und versucht die Methoden individueller auf Benjamin abzustimmen. Aber ihre Bemühungen scheinen im Sand zu verlaufen. Plötzlich erinnert sie sich an einen Satz aus ihrer Ausbildung: "Arbeiten Sie nicht härter als Ihr Klient!" Sie stellt ihren Fall anonymisiert in der Supervision vor, um ihr Vorgehen zu reflektieren. Dabei kommt der gute Start, der offene Austausch und ihre Irritation darüber zur Sprache, dass trotz der intensiven Sitzungen nichts vorwärts geht. Als sie den bisherigen Verlauf Revue passieren lässt, stellt sie verdutzt fest: "Ich fühle mich ...ja, ich fühle mich irgendwie sabotiert."
In der nächsten Sitzung möchte sie ihre Erkenntnisse offenlegen. Als sie Benjamin ihre Beobachtungen zurückmeldet, lächelt dieser etwas verlegen und gleichzeitig verschmitzt. Die Zusammenarbeit nimmt eine komplette Richtungsänderung. Als die Beraterin sagt: "Ich hatte das Gefühl, wir haben einen guten Austausch - aber inzwischen denke ich, dass ich gar nicht an Sie herankomme." meint Benjamin: "Ich glaube, da sind Sie nicht die Einzige." Im Verlauf der Stunde wird Benjamin ernster. Er erzählt stockender, wirkt nachdenklich, manchmal unsicher. Er beschreibt die teure Privatschule, auf die ihn die Eltern geschickt haben - und dass er das Gefühl hatte, sie wollten ihn aus dem Haus haben. Er schildert, dass seine Eltern immer irgendwelche Pläne mit ihm hätten, als wäre er ein Projekt. Er berichtet von vielen Geschenken und wenig Zeit.
Benjamin muss sich eingestehen, dass ihm vieles im Leben geschenkt wurde. In der Schule hat er sich kaum angestrengt. Durch private Nachhilfestunden konnte er den Abschluss mehr schlecht als recht schaffen. Er kommentiert dies mit: "In meinem Internat waren viele irgendwie so. Es war fast, als hätten wir gewusst, dass das Schulgeld unser Ticket für den Abschluss ist." Nachdenklich, fast schon bedrückt wirkt Benjamin, als ihm klar wird: "Ich habe an der Uni schon einige Leute enttäuscht. Zum Beispiel bei Gruppenarbeiten. Wenn ich ehrlich bin, bin ich der typische Trittbrettfahrer. Ich schaue, dass ich mit irgendeiner fleißigen Studentin in der Gruppe bin und hoffe darauf, dass sich die Arbeit von alleine erledigt. Aber bei den Prüfungen klappt das halt nicht."
Das Lerncoaching bedeutete für Benjamin eine harte Auseinandersetzung mit sich selbst. Das Bestehen der Prüfung rückte in den Hintergrund und machte Platz für Ziele, die der junge Mann ernsthaft verfolgen wollte:
- Ich bin ein Mensch, der Wort hält und auf den man sich verlassen kann.
- Am Ende meines Lebens will ich meinen Weg gegangen sein und mit Stolz darauf zurückblicken können.
- Ich übernehme Verantwortung für mein Leben und höre auf, anderen die Regie zu überlassen und ihnen die Schuld zu geben, wenn es nicht in meinem Sinne läuft.
- Ich bin bereit, mich anzustrengen und Unsicherheiten und Misserfolge auszuhalten, um persönlich wichtige Ziele zu erreichen.
Was Eltern tun können:
- Lösen Sie Probleme gemeinsam mit Ihrem Kind anstatt ihm die Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Wie Sie Ihr Kind aktiv und altersgerecht in Problemlösungen mit einbeziehen können, zeigt unser Film mit dem kleinen Biber
- Unterstützen Sie Ihr Kind dabei, die Welt wieder in Ordnung zu bringen, wenn es einen Fehler gemacht hat, anstatt sich für Ihr Kind zu entschuldigen. Einige Anregungen dazu finden hier.
- Trauen Sie Ihrem Kind zu, Langeweile auszuhalten und erwarten Sie von ihm, sich auch auf Aufgaben einzulassen, die es nicht interessant oder spannend findet.
- Loben Sie Ihr Kind dafür, dass es "tapfer war" oder "seinen inneren Schweinehund überwunden hat", wenn es eine Aufgabe erledigt hat, auch wenn es darauf keine Lust hatte (z.B. bei den Hausaufgaben, dem Zimmeraufräumen oder den Haushaltsämtern).
- Zeigen Sie Ihrem Kind auf, dass Erfolge vorwiegend mit Ausdauer und Anstrengung zu tun haben, anstatt seine Begabung, Intelligenz oder sein Talent zu betonen. Wieso dies so wichtig ist und wie Sie dies umsetzen können, erfahren Sie hier.
- Versuchen Sie, zwischen Wünschen (was das Kind möchte) und Bedürfnissen (was das Kind braucht) zu unterscheiden. Sie müssen und sollten Ihrem Kind nicht jeden Wunsch erfüllen. Seine Grundbedürfnisse sollten jedoch befriedigt werden. Kinder, deren Grundbedürfnisse befriedigt werden, können folgendes von sich sagen:
- ich habe regelmäßig Zugang zu Grundnahrungsmitteln und Getränken, habe Kleidung, um mich dem Wetter entsprechend anzuziehen und ein Dach über dem Kopf (physiologische Bedürfnisse)
- ich verfüge über ausreichend Zeit, um zu schlafen und mich zu bewegen (physiologische Bedürfnisse)
- ich fühle mich grundsätzlich in Sicherheit und weiß, dass ich Zuflucht bei meinen Bezugspersonen suchen kann (Sicherheitsbedürfnis)
- meine Bezugspersonen schenken mir körperliche Nähe und emotionale Geborgenheit (Bedürfnis nach Bindung und Beziehung)
- ich darf Dinge im Alltag alleine ausprobieren (Bedürfnis nach Autonomie)
- ich spüre, dass mein Umfeld mich schätzt und mir etwas zutraut (Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung)
- mein Alltag gibt mir die Möglichkeit, zu wachsen, indem ich neues lerne oder mich und meine Umgebung im Spiel besser kennenlerne (Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung)
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