Rechenstörung / Dyskalkulie
Eine Mutter schreibt:
„Unser Sohn hat enorme Schwierigkeiten in der Mathematik. Ich habe den Eindruck, dass wir jeden Tag wieder von vorne beginnen müssen. Wir haben schon vieles ausprobiert, zum Beispiel verschiedene Materialien zu Hilfe nehmen, aber irgendwie macht er kaum Fortschritte. Ich bin langsam ratlos und frage mich, wie ich es ihm noch erklären soll, damit es klick macht. Ein Beispiel: Sogar bei ganz einfachen Aufgaben wie 3 + 5 oder 17 - 9 kommt er kaum auf ein Ergebnis. Der Grundschullehrerin fällt das auch auf. Sie ist total bemüht und nimmt sich oft Zeit, um unserem Sohn die Aufgaben oder Rechenschritte noch einmal zu erklären. Aber bis er zu Hause ist, hat er keine Ahnung mehr, wie er es jetzt rechnen muss. Die Heilpädagogin meint, dass vielleicht eine Rechenschwäche dahinterstecken könnte.“
Was sind die Anzeichen für eine Rechenschwäche oder -störung? Wie häufig kommt sie vor und wie wird sie diagnostiziert? Mehr dazu erfahren Sie in diesem Artikel.
Woran erkennt man eine Rechenstörung?
Bereits sehr früh entwickeln Kinder mathematische Fertigkeiten. Oftmals kann man nur staunen, wie rasch Kleinkinder lernen, einfache Mengen zu unterscheiden (z.B. Legosteine, Kekse) und wie sie langsam mit dem Aufsagen der Zahlenreihe beginnen („Einszweidreivierfünf…“). Ab dem Kindergartenalter erkennen sie, dass diese Zahlen eine tiefere Bedeutung haben – dass sie nämlich für Anzahlen stehen. Mit der Zeit gelingt es ihnen, von verschiedenen Zahlen aus hoch- und runterzuzählen und dadurch auch einfach Plus- und Minusrechnung zu lösen. Sie können nun auch Teilmengen erfassen („Ich hab vier Legosteine: drei grüne und einen gelben“).
Im Verlauf der Grundschule eignen sich die Kinder ein besseres Konzept von Mengen, von der natürlichen Zahlenfolge und vom immer größer werdenden Zahlenraum an und erkennen den Unterschied zwischen den Stellenwerten (Tausender, Hunderter, Zehner, Einer). Zudem machen sie sich mit den grundlegenden Rechenoperationen vertraut (Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division). All dies bildet die Grundlage für spätere komplexere Rechnungen.
Kinder mit einer Rechenstörung scheitern oftmals bereits am Erwerb der Grundlagen:
- Typischerweise rechnen diese Kinder auch am Ende der Unterstufe und in der Mittelstufe noch mit den Fingern und können sich kaum davon lösen. Oftmals zählen sie Plus- und Minusaufgaben angestrengt ab und kommen nur langsam zu einem –oftmals falschen- Resultat. Bei Jugendlichen erfolgt das Hoch- und Runterzählen häufig verdeckt. Manche von ihnen stellen sich im Kopf einen Zahlenstrahl vor, andere zählen leise ab und nicken dabei mit dem Kopf oder pressen die Finger nacheinander auf die Tischplatte.
- Viele betroffene Kinder können beim Rechnen kaum mentale „Anker“ setzen und Ergebnisse abspeichern. Haben sie beispielsweise die Aufgabe 9+4 in diesem Moment erfolgreich lösen können, müssen sie die Aufgabe 9+5 direkt im Anschluss erneut durchzählen.
- Oftmals verlieren sich Kinder mit einer Rechenstörung selbst in einfachen Aufgaben, rechnen langwierig, hüpfen plötzlich zu einer anderen Rechenprozedur und vergessen dabei die Aufgabenstellung ("Jetzt bin ich rausgekommen - Wie hieß noch mal die Aufgabe?")
- Das Kopfrechnen ist meist sehr angst- und schambehaftet und gelingt oftmals nur unter großen Mühen und heimlicher Zuhilfenahme von Materialien. Solche Aufgaben werden daher oftmals so gut wie möglich umgangen oder es kommt zu Blackouts („Weiß nicht…Jetzt ist wieder alles weg.“)
- Sollen schwierigere Aufgaben gelöst werden (Zehnerübergang, Hunderterraum), passieren viele Fehler. Die Kinder kommen mit ihrer „Abzählstrategie“ an ihre Grenzen, fühlen sich verwirrt und produzieren reihenweise falsche Resultate. Das Arbeitstempo ist massiv gedrosselt.
- Schwierigkeiten zeigen sich häufig auch beim Stellenwert: Hunderter, Zehner und Einer werden relativ wahllos vertauscht. „Achtundneunzig“ wird beispielsweise als 89 verschriftlicht, „fünfhundertfünfzig“ als 50050.
- Ein Gespür für die Größe von Zahlen oder Mengen (79>89) kann kaum ausgebildet werden.
- Es kommt zu Problemen beim Abspeichern des Einmaleins, Verwirrung macht sich breit („Warum ergibt 9x8 dasselbe wie 8x9?“).
- Geschriebene Zahlwörter in Texten / Sachaufgaben werden nicht als solche erkannt.
- Bei Sachrechnungen wird die Aufgabenstellung überflogen, dann greift das Kind oftmals einzelne Zahlen heraus und fügt diese nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ zusammen.
- Vielen Kindern mit einer Rechenstörung fällt insgesamt das mathematisch-logische Denken schwer. Es gelingt ihnen kaum, mathematische Konzepte, Fakten oder Rechenschritte anzuwenden, um eine Problemstellung zu lösen.
Typischerweise entsteht bei den Bezugspersonen mit der Zeit der Eindruck, das Üben mit dem Kind bringe keine Erfolge. Verschiedene Anschauungsmaterialien scheinen kaum Wirkung zu zeigen. Am nächsten Tag ist alles wieder „wie weggeblasen“.
Die meisten Kinder mit Rechenschwierigkeiten leiden stark unter ihren Misserfolgen. Eltern müssen oft hilflos dabei zusehen, wie sich ihr Kind als „zu dumm“ abstempelt, im Unterricht über Bauchschmerzen klagt oder mit der Zeit massive Prüfungsängste entwickelt. Viele Eltern beobachten mit wachsender Sorge, dass sich ihr Kind dem Üben mehr und mehr entzieht, um den Selbstwert zu schützen, wodurch die Lücken im Rechnen noch größer werden. Die Forschung zeigt zudem, dass diese Kinder ein höheres Risiko für Selbstmordgedanken haben – ein Ausdruck ihrer großen Verzweiflung.
Verschiedenen Studien zufolge sind circa 4 bis 7% der Kinder im deutschsprachigen Raum von einer Rechenstörung betroffen. Die Diagnose wird gestellt, wenn ein Kind trotz ausreichender Beschulung und Intelligenz überdauernde Probleme im Zahlen- bzw. Mengenverständnis und insbesondere in der korrekten Anwendung von Rechentechniken (Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division) hat. Die Auffälligkeiten treten in den ersten Schuljahren zutage und führen zu ungenügenden Noten in der Mathematik. Es besteht eine große Diskrepanz zwischen dem allgemeinen Begabungspotenzial / IQ des Kindes und seinen Rechenleistungen.
Weil es nicht aufgrund mangelnder Intelligenz zur Rechenproblematik kommt, spricht man auch von einer Teilleistungsstörung oder -schwäche. Verwandte Begriffe der Rechenstörung sind „Dyskalkulie“ und „spezifische Lernstörung mit Einschränkungen in der Mathematik“.
Wie wird eine Rechenstörung / Dyskalkulie diagnostiziert?
Wenn Eltern und Lehrpersonen feststellen, dass ein Kind über einen längeren Zeitraum hinweg massive Probleme im Rechnen aufweist, wird oftmals eine professionelle Abklärung ins Auge gefasst. Meist ist die Schulpsychologin die erste Anlaufstelle. Auch Kinder- und Jugendpsychotherapeuten bzw. -psychiater verfügen normalerweise über die notwendigen Testverfahren und Erfahrungen für eine fundierte Diagnostik.
Nach der Anmeldung zur Abklärung führt die Fachperson in der Regel ein Erstgespräch mit den Eltern und dem Kind, teilweise auch mit der Lehrperson. Im Erstgespräch kommen die bisherige Entwicklung des Kindes, die schulische Situation und die Auswirkungen der Rechenschwierigkeiten auf den Alltag zur Sprache. Typischerweise möchte sich die Diagnostikerin auch ein Bild über die Stärken und Schwächen des Kindes und seine emotionale Befindlichkeit in der Familie, Freizeit und der Schule machen.
Nun folgt die testpsychologische Untersuchung. In den meisten Fällen legt das Kind zuerst einen Intelligenztest (z.B. WISC, K-ABC-2) ab. Dadurch möchte die Fachperson feststellen, ob sich die Rechenprobleme durch eine Über- oder Unterforderung oder eine Lernbehinderung erklären lassen. Gleichzeitig kann sie anhand des Testprofils erkennen, in welchen Bereichen das Kind Stärken und Schwächen aufweist.
Spezifische Rechentests (z.B. DEMAT, HRT, ZAREKI-R, RZD) geben Hinweise darauf, wo das Kind bezüglich seiner mathematischen Fertigkeiten aktuell steht. Sein Gesamtergebnis wird mit der Durchschnittsleistung von Gleichaltrigen bzw. Schüler/innen derselben Klassenstufe verglichen. Anhand dessen prüft die Diagnostikerin, ob das Testergebnis des Kindes im kritischen Bereich liegt. Ergänzend kann sie sich die Ergebnisse der verschiedenen Untertests genauer ansehen und dabei einschätzen, welche Lücken das Kind aufweist und auf welcher Ebene seine Rechenschwierigkeiten liegen. Dies liefert wertvolle Hinweise für die Frage, wo die Förderung des Kindes ansetzen sollte.
Zusätzliche Verfahren geben Aufschluss über den Entwicklungsstand in Bereichen der visuellen und auditiven Wahrnehmung, der Motorik und des Körpergefühls, die ebenfalls einen hohen Stellenwert in der Diagnostik einnehmen. Falls es Anlass zur Vermutung gibt, dass die Rechenschwierigkeiten durch Seh- oder Hörprobleme bzw. durch neurologische, sensorische oder motorische Auffälligkeiten zustande kommen, kann eine weiterführende medizinische Abklärung sinnvoll sein.
Im Idealfall darf die Diagnostikerin im Verlauf der Diagnostik auch Einblick in alte Prüfungen, Übungshefte und / oder Zeugnisse des Kindes nehmen. Dies liefert ihr wertvolle Hinweise über den bisherigen Verlauf der Rechenschwierigkeiten. Die Diagnostikerin wird zudem das Arbeitsverhalten des Kindes beobachten und mögliche Ängste oder Lernblockaden im Blick behalten.
Auf Basis der Abklärungsergebnisse kann die Diagnostikerin feststellen, ob die Kriterien für eine Rechenstörung beim Kind erfüllt sind. Bei einem Auswertungsgespräch stellt die Fachperson die Testergebnisse vor und diskutiert mit der Familie, im Idealfall auch mit der Lehrperson die weiteren Fördermöglichkeiten.
Welche Ursachen hat die Rechenstörung?
Der Forschungsstand deutet darauf hin, dass die Rechenstörung durch ein kompliziertes Zusammenspiel aus Genen und Umwelteinflüssen zustande kommt. Dass Gene wahrscheinlich eine Rolle spielen, zeigt sich unter anderem in Familienstudien. So konnten Forscher/innen nachweisen, dass die Rechenstörung in Familien gehäuft auftritt. Leibliche Eltern und Kinder von Betroffenen haben ein um 5 bis 10 Mal erhöhtes Risiko, selbst an einer Rechenstörung zu leiden, im Vergleich zu Personen, bei denen die Rechenstörung nicht in der direkten Verwandtschaft vorkommt. Es ist davon auszugehen, dass mehrere Gene mit der Rechenstörung in Verbindung stehen und nicht ein einziges Gen.
Als Risikofaktoren kommen zudem bestimmte Bedingungen während der Schwangerschaft (beispielsweise rauchen der Mutter) infrage. Darüber hinaus entwickeln frühgeborene Kinder beziehungsweise solche mit sehr geringem Geburtsgewicht in ihrem Leben häufiger spezifische Lernstörungen.
Auch das Lebensumfeld des Kindes kann die Entwicklung der Problematik beeinflussen.
Insgesamt deuten die Studienergebnisse darauf hin, dass sich das Zusammenspiel zwischen Genen und Umweltbedingungen auf die Gehirnentwicklung des Kindes auswirkt. Dabei entstehen vermutlich Einschränkungen in der Informationsverarbeitung. Diese wiederum können es dem Kind erschweren, grundlegende Fertigkeiten und weiterführende Kompetenzen in der Mathematik aufzubauen.
Über mehrere Studien mit bildgebenden Verfahren hinweg konnte nachgewiesen werden, dass Hirnregionen, die am Rechnen beteiligt sind (im Parietallappen, präfrontalen und occipitalen Kortex) bei Kindern mit Rechenstörung ein anderes Aktivierungsmuster aufweisen (Kaufman und Kollegen, 2011).
Was brauchen Kinder mit Rechenschwierigkeiten?
Die meisten Kinder geraten durch die andauernden Rechenprobleme in einen regelrechten Teufelskreis. Auf das anfängliche Bemühen, die Lücke zu schliessen und den Anschluss an die Klasse zu gewinnen, folgt bald die Abwertung des Faches („Rechnen ist eh blöd!“) um das Selbstwertgefühl zu schützen. Eltern haben in dieser Phase mit dem Widerstand des Kindes zu kämpfen, das sich beharrlich gegen die Rechenübungen sträuben will. Die Misserfolge und die Spannungen während der Hausaufgaben und Übungen führen zu Frustrationen auf beiden Seiten. Die Lücken werden immer größer, das Selbstbewusstsein des Kindes und die Beziehung leiden. Eltern müssen in dieser Situation zu Experten für ihr Kind werden und genau erkennen, wie sie ihr Kind wieder neu zum Lernen motivieren können, mit Widerstand umgehen können und welche Übungen zur Lückenschließung sinnvoll sind (mehr dazu in unserem Elternseminar).
Eine zielgerichtete Förderung kann am besten in der Zusammenarbeit von Kind, Eltern, die Lehrperson, der schulischen Heilpädagogin bzw. einem Lerncoach umgesetzt werden.
Damit das Kind wieder Vertrauen in seine Fähigkeiten schöpfen und kleine Fortschritte erleben kann, müssen die Übungen so gestaltet sein, dass sie das Kind nicht überfordern. Eine Lückenanalyse gibt Aufschluss darüber, wo genau das Kind den Anschluss verloren hat und welche Lücken im Detail bestehen. Indem Übungen an der ersten Lücke ansetzen, können die Grundlagen so gut und rasch wie möglich aufgebaut werden.
Oftmals ist es nicht sinnvoll, (ausschließlich) den aktuellen Schulstoff zu bearbeiten. So nützt es beispielsweise wenig, mit einem Kind intensiv am Zehnerübergang zu arbeiten, wenn es die Grundlage dafür noch nicht beherrscht (Auswendiger Abruf der Plus- Minusrechnung im Zehnerraum). Viele frustrierende Übungseinheiten könnten bei diesem Kind vermieden werden, wenn zuerst die Grundlagen eingeschliffen werden.
Regelmäßige, kurze Übungseinheiten (z.B. täglich 10 Minuten) sind gewinnbringender als seltenere, lange Übungseinheiten.
Rechenschwache Kinder machen oftmals die Erfahrung, dass sie „üben können so viel sie wollen aber trotzdem schlecht bleiben.“ In der Folge stempeln sie sich häufig als zu dumm oder wertlos ab. Um ein Gefühl von Selbstwirksamkeit zu entwickeln sind sie auf Bezugspersonen angewiesen, die:
-
- ihre Erwartungen an ihren Leistungsstand anpassen
- ihre Anstrengungsbereitschaft stärker wertschätzen als das Ergebnis
- einen Blick für kleine Fortschritte entwickeln und dem Kind zurückmelden, dass es sich diese durch Übung, Ausdauer und Tapferkeit erkämpft hat
Für die Unterstützung rechenschwacher Kinder bei den Hausaufgaben gilt allgemein: Weniger ist mehr! Wenn wir ihnen eine echte Unterstützung sein möchten, sollten wir uns genau darüber informieren, welcher Rechenweg in der Schule vermittelt wird und versuchen, diesen nachzuvollziehen anstatt das Kind mit Zusatzerklärungen durcheinanderzubringen. Oftmals neigt man instinktiv dazu, verschiedene Anschauungsmaterialien, Rechentricks und -wege zu nutzen. Das ist gut gemeint, denn man möchte so gerne, dass das Kind ein „AHA-Erlebnis“ hat. Leider erreicht man dadurch meist genau das Gegenteil. Die Kinder fühlen sich noch stärker verwirrt, beginnen zu weinen oder reagieren mit einem frustrierten „Das hat die Lehrerin aber ganz anders erklärt!"
Sich in der Schule tagtäglich mit den eigenen Schwächen zu konfrontieren kostet Kraft. Um psychisch gesund zu bleiben brauchen gerade Kinder mit Lernschwierigkeiten genügend Ruheinseln und Raum, um ihre Stärken zu entdecken und zu kultivieren. Mehr zu diesem Thema erfahren Sie unter diesem Link.
Aktuell: Seminar zum Thema Rechnen
Elternseminar „Kinder mit Rechenschwierigkeiten erfolgreich fördern“ mit Dyskalkulie-Experte Dr. Armin Born
Buchtipp:
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Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund sind Psychologen, Autoren und leiten gemeinsam die Akademie für Lerncoaching in Zürich.
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