Hochbegabung

Was ist Hochbegabung?

Der Begriff Hochbegabung weckt bei den meisten Menschen ganz bestimmte Vorstellungen. Vielleicht denkt man instinktiv an Menschen mit einer Inselbegabung, die ganze Telefonbücher auswendig aufsagen können, die Zugfahrpläne einjeder Weltmetropole im Kopf haben oder aus dem Gedächtnis ganze Städte detailgetreu nachzeichnen können. In den meisten Fällen hat Hochbegabung ein anderes Gesicht. Der Volksmund sagt: hochbegabte Menschen sind besonders intelligent. Aber wodurch zeichnet sich Intelligenz aus und wie kann sie optimal gemessen werden? Diese Fragen beschäftigen Wissenschaftler seit Jahrhunderten. Bereits 1905 entwarfen die Forscher Binet und Simon ein erstes Konzept, wonach Intelligenz die Art und Weise war, wie ein Mensch eine aktuelle Situation bewältigt, d.h. wie er urteilt, versteht und denkt. Wechsler definierte Intelligenz 1944 als die zusammengesetzte Fähigkeit eines Menschen, „zweckvoll zu handeln, vernünftig zu denken und sich mit seiner Umgebung wirkungsvoll auseinander zu setzen.“ Die Intelligenz wird heute mithilfe von Testverfahren gemessen. Dabei werden unterschiedliche Bereiche wie beispielsweise das logische Denken, das Allgemeinwissen, das Wortverständnis, die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses, die Verarbeitungsgeschwindigkeit, die Merkfähigkeit, die Konzentrationsfähigkeit usw. mithilfe verschiedener Leistungstest geprüft. Diese Verfahren sind standardisiert, das heißt, es gibt strenge Richtlinien, wie diese durchgeführt werden müssen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Leistungsunterschiede zwischen Kindern nicht auf Unterschiede in der Testsituation oder Testdurchführung zurückgeführt werden können - alle sollen dieselben Chancen erhalten. Wenn das Kind alle Untertests absolviert hat, berechnet die Diagnostikerin aus der individuellen Leistung des Kindes einen Gesamtwert. Für verschiedene Altersgruppen gibt es sogenannte Normtabellen, mit denen die Leistung des Kindes verglichen wird. Der Intelligenzquotient gibt also Aufschluss darüber, wie das Kind im Vergleich zu dieser Normstichprobe, den Gleichaltrigen, abgeschnitten hat.

So viele Konzepte es von der menschlichen Intelligenz gibt, so viele existieren auch zum Begriff der Hochbegabung. Im klassischen Sinne wird von einer Hochbegabung gesprochen, wenn ein Kind oder Erwachsener in einem standardisierten Intelligenztest einen Intelligenzquotienten von 130 oder mehr erzielt. Was bedeutet dies nun?

Wir gehen davon aus, dass 68% der Kinder und Erwachsenen einen Intelligenzquotienten zwischen 85 und 115 aufweisen. Bei einem IQ zwischen 115 und 130 spricht man von einer überdurchschnittlichen Begabung.

Ab einem Intelligenzquotienten von 130 (und mehr) geht man im Allgemeinen von einer Hochbegabung aus. Wenn ein Kind, nennen wir ihn Tobias, einen Intelligenzquotienten von 130 hat, entspricht dies einem Prozentrang von 98: 98% der Gleichaltrigen schneiden im Intelligenztest also schlechter ab als Tobias, nur 2% der Gleichaltrigen erzielen ebenso gute oder bessere Leistungen. Die Hochbegabung ist damit ein seltenes, aber dennoch ernstzunehmendes Phänomen. Um sie zu erkennen bedarf es einer professionellen Abklärung, bei der nicht nur die Intelligenz gemessen, sondern auch Eltern und Lehrkräfte befragt und das Kind in seinem Verhalten beobachtet wird. Sie schließt außerdem eine Untersuchung verschiedener Begabungsrichtungen oder Aspekte der Persönlichkeit mit ein.

Eine erfahrene Psychiaterin, Psychotherapeutin oder (Schul-) Psychologin wird aus dem Mosaik der Testergebnisse, der Eltern- und Schulberichte, der Verhaltensbeobachtung des Kindes, sowie des Gesamteindruckes in der Regel einen Bericht erstellen. Oftmals finden Sie in diesem neben dem allgemeinen Intelligenzquotienten auch ein Profil der Stärken und Schwächen des Kindes (die auch hochbegabte Kinder haben) sowie eine abschließende Beurteilung. Im Falle einer Hochbegabung kann die Fachperson Sie über Fachstellen und Elternvereine informieren, die sich auf dieses Thema spezialisiert haben, und die Ihnen als Eltern mit Rat und Tat zur Seite stehen können.  

Hochbegabung - muss ich mir Sorgen machen?

In der Gesellschaft kursieren viele Vorurteile über hochbegabter Kinder. Sind sie von Natur aus schulische Überflieger? Oder trifft eher das Gegenteil zu und sie langweilen sich im Unterricht und schreiben schlechte Noten? Wie steht es um ihre Sozialkontakte? Sind sie einsam, empfindlich, eigenbrötlerisch? Was hat es mit der vielbesagten Kombination aus Genie und Wahnsinn auf sich? Die wissenschaftliche Forschung bringt hier etwas Licht ins Dunkel: Bereits in den 1920er Jahren befasste sich der Psychologe Lewis Terman mit der Frage, wie hochbegabte Kinder heranwachsen. Er beobachtete und dokumentierte den Entwicklungsverlauf hochbegabter Kinder und verglich diesen mit einer Vergleichsgruppe. Das spannende Ergebnis: über alle Kinder hinweg ging ein hoher Intellekt mit einer besseren körperlichen und psychischen Gesundheit und höheren Schul- und Berufsleistungen einher. 

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt das Marburger Hochbegabtenprojekt (MHP) unter der Leitung von Prof. Rost, das in den 80er Jahren in Deutschland ins Leben gerufen wurde. Über 7000 Drittklasskinder wurden mittels Intelligenzverfahren getestet. Man identifizierte 151 hochbegabte Kinder und wählte eine Vergleichsgruppe von 138 Gleichaltrigen aus, die sich hinsichtlich ihres Geschlechts, der Schulart und –stufe sowie des familiären Hintergrunds mit diesen deckten. Sechs Jahre später wurden beide Gruppen im Alter von circa 15 Jahren erneut untersucht. Dabei zeigten sich interessante Ergebnisse: 85% der hochbegabten Jugendlichen verfügten über angemessene Schulleistungen. Bei lediglich einem kleinen Teil von 15% handelte es sich um sogenannte underachiever / schulische Minderleister, die bezüglich ihrer Noten weit unter dem zurückblieben, was im Hinblick auf ihre Intelligenz zu erwarten wäre. Im Durchschnitt schienen die intellektuell sehr starken Jugendlichen ihr Potenzial also gut auszuschöpfen. Auch das Vorurteil, dass hochbegabte Jugendliche eigenbrötlerisch oder sozial isoliert seien, ließ sich nicht bestätigen, vielmehr waren sie im Durchschnitt so gut sozial integriert wie ihre Gleichaltrigen. Dies bestätigten nicht nur die Selbsteinschätzungen der Jugendlichen, sondern auch die Angaben der Eltern und Lehrkräfte. Es zeichnete sich allerdings eine Tendenz ab, was die Qualität von Freundschaften betrifft: so legten Hochbegabte öfter mehr Wert auf einen kleinen ausgewählten Freundeskreis.

Die Forscher der MHP-Studie ziehen aus den vielen Ergebnissen ihrer Langzeituntersuchung das Fazit, dass „die Hochbegabten als im Schulsystem gut integriert und schulisch erfolgreich sowie sozial unauffällig, psychisch besonders stabil und selbstbewusst charakterisiert werden (können)." (S. 204, Erg. der Autoren). 

Die bisherigen wissenschaftlichen Studien zeichnen insgesamt ein positives Bild und prognostizieren Hochbegabten im Durchschnitt einen erfreulichen Lebensweg. Es ist dabei wichtig, zu beachten, dass aus wissenschaftlichen Untersuchungsergebnissen keine Rückschlüsse auf Einzelpersonen getroffen werden können. Diese Befunde zeigen lediglich eine Tendenz auf, daher sind Ausnahmen gut möglich. 

Ist mein Kind hochbegabt?

Die oben erwähnten Studien legen nahe, dass ein großer Teil der hochbegabten Kinder in der Schule gut zurecht kommt, seinen Platz in der sozialen Gruppe findet und psychisch gesund ist. In diesen Fällen rutscht das Thema "Hochbegabung" oftmals gar nicht auf das Radar der Kinder und deren Familien. Ein kleiner Anteil der intellektuell sehr starken Kinder entwickelt Probleme, wegen derer Eltern und / oder Lehrpersonen bei einer Fachperson (Psychiater/in, Psychotherpeut/in, (Schul-)Psychologen) vorstellig werden. So wurden einige hochbegabte Kinder, die ich im Laufe der Zeit kennen gelernt habe, wegen eines Verdachts auf eine Aufmerksamkeitsstörung, wegen schlechter Schulleistungen oder einer kritischen Stellung in der Klasse zur Abklärung angemeldet. Erst im Zuge der Diagnostik zeichnete sich der -für das Umfeld oftmals überraschende- hohe Intellekt ab. Ein Beispiel für einen solchen Fall finden Sie hier.

Auf der anderen Seite begegnen uns immer wieder Eltern, die Motivations- und Aufmerksamkeitsprobleme oder emotionalen Auffälligkeiten des Kindes gerne auf eine Hochbegabung bzw. Unterforderung zurückführen würden. Sie sind enttäuscht, wenn ein Diagnostiker keinen sehr weit überdurchschnittlichen IQ, aber schulische Überforderung, isolierte emotionale Probleme oder eine ADHS feststellt.

Meist ist die Testung der Intelligenz ein "Nebenprodukt", wenn es darum geht, herauszufinden, worauf gewisse Auffälligkeiten zurückzuführen sein könnten. In den allermeisten Fällen wird eine testdiagnostische Erhebung dann durchgeführt, wenn beim Kind selbst und / oder Eltern und Lehrpersonen ein Leidensdruck entsteht - sei dies aufgrund von Leistungsschwierigkeiten, emotionalen Problemen oder Auffälligkeiten im Sozialverhalten. Nur wenn wir wissen, welche Faktoren den Auffälligkeiten zugrunde liegen, können wir als Eltern und Fachpersonen geeignete Unterstützungsmassnahmen einleiten und dem Kind die Förderung zukommen lassen, die es braucht. Oft soll eine Abklärung auch Antworten auf eine spezifische Fragestellung geben, z.B. "Wäre es für dieses Kind sinnvoll, früher eingeschult zu werden / eine Klasse zu überspringen / einzelne Fächer in höheren Stufen zu besuchen? Benötigt dieses Kind besondere Unterstützungsangebote oder ein angereichertes Freizeitprogramm? etc."

Eine Zusammenstellung von Auffälligkeiten hochbegabter Kinder, welche in manchen Fällen zu einem Problem werden können, hat die „Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind" herausgegeben. Wir haben diese im Folgenden für Sie zusammengefasst:

Mögliche Auffälligkeiten im Vorschulalter

  • Rasches Aufkommen von Langeweile
  • Verweigerung und auffälliges Verhalten bei zu wenig anspruchsvollen Spielangeboten
  • Nicht altersgemäße Interessen
  • Schwierigkeiten, sich aufgrund dieser Besonderheiten sozial zu integrieren

Mögliche Auffälligkeiten im Schulalter

  • Unterforderung im Unterricht
  • Häufige „Streber-„ oder „Besserwisserrolle“ im Klassenverband
  • Aufführen als „Klassenclown“, um gesehen zu werden
  • Schwierigkeiten, den eigenen Platz im Klassenverband zu finden
  • schwankende Schulleistungen im Vergleich zur allgemeinen Intelligenz

Mögliche Auffälligkeiten in der Freizeit

  • Wenig Interesse an „altersgemäßen“ Hobbies
  • Hohes Maß an Perfektionismus
  • Kritische Auseinandersetzung mit sich selbst und anderen
  • Geistig-verbale statt körperliche Auseinandersetzung
  • Sensibel für Zwischenmenschliches
  • Große Diskrepanz zwischen altersgemäßer emotionaler Reife und überdurchschnittlicher intellektueller Reife
  • Gefühl des Ausgeschlossenseins

Hochbegabte Kinder haben eine Reihe von Stärken

Hochbegabte Kinder haben ganz unterschiedliche Interessen und Begabungsbereiche. Diese zeigen sich oftmals bereits im Alltag, manchmal sorgt auch eine umfassendere Begabungsabklärung für Klarheit. Manche hochbegabte Kinder fallen durch ihre beeindruckende Auffassungsgabe und messerscharfen Beobachtungen auf und ziehen rasche logische Schlussfolgerungen, andere zeigen ausgeprägte sprachliche Fähigkeiten, ein hohes Maß an Fantasie und Kreativität oder ein ausgeprägtes Gespür im sozialen und emotionalen Bereich. Das hochbegabte Kind als solches gibt es jedoch nicht. Die Begabungsbereiche können ganz unterschiedlich stark ausgeprägt sein.

Hochbegabung- was nun?

Hat eine Abklärung stattgefunden, die dem Kind eine Hochbegabung ausweist, sind sich die meisten Eltern unsicher, ob sie die Lehrkräfte und das Umfeld informieren sollen. Ein Patentrezept gibt es nicht, schlussendlich muss jede Familie für sich entscheiden, mit welcher Lösung sie sich am wohlsten fühlt. Wir würden uns wünschen, in einer Gesellschaft zu leben, die Menschen mit den verschiedensten Besonderheiten akzeptiert und ihnen einen Platz einräumt. Die Realität sieht oft ganz anders aus. Unsere Gesellschaft ist sehr stark auf Chancengleichheit bedacht und reagiert deshalb oft geradezu beleidigt, wenn ein Kind „von Natur aus“ intellektuelle Vorteile gegenüber anderen Kindern hat. Die wenigsten Menschen verstehen, warum es auch mit Schwierigkeiten verbunden sein kann, ein „besonders gescheites“ Kind zu haben. Wer sein Kind als hochbegabt „outet“, läuft Gefahr, auf Neid und Missgunst zu stossen, denn der Begriff ist immer noch mit vielen Vorurteilen verbunden. Für manche Eltern hat es sich bewährt, das Phänomen im Umfeld zu umschreiben, wenn diesbezüglich Fragen aufkommen (z.B. „er ist fasziniert von Mathematik“ , „sie vertieft sich gerne in Sprachspiele“, „sie möchte alles immer ganz genau verstehen.“). Sollten Sie merken, dass Ihr Kind deutlich "anders tickt" als Gleichaltrige und es selbst und / oder die Familie beginnt, darunter zu leiden, bringt oft der Kontakt zu einer Hochbegabtenvereinigung Entlastung und Klarheit - hier kann man sich in einem geschützten Rahmen austauschen und nach Erfahrungen und Erfolgsrezepten fragen.

Wenn es um den Umgang mit der Schule geht, ist es nützlich, sich immer wieder bewusst zu machen, dass Hochbegabung ein seltenes Phänomen ist. Die meisten Lehrkräfte, aber auch viele Psychologen haben wenig Erfahrung mit diesen Kindern. Wie die Forschung zeigt, sind die meisten hochbegabten Kinder in der Schule gut aufgehoben und gehen ihren Weg erfolgreich. Sofern Sie das Gefühl haben, dass die Schule wenig auf die Besonderheiten Ihres Kindes eingehen kann, ist es ratsam, sich Literatur zum Thema zu beschaffen und diese bei Bedarf auch an Lehrkräfte weiterzugeben. Sie kennen Ihr Kind am besten und können in dieser Situation auch der Fürsprecher Ihres Kindes werden, wenn die Umgebung ungünstig reagiert.

Dem Kind von seiner Hochbegabung berichten?

Viele Eltern sind zwiegespalten, wenn es um die Frage geht, wieviel das eigene Kind über gewisse Abklärungsergebnisse wissen sollte. Hier ist der Leidensdruck des Kindes oftmals der ausschlaggebende Punkt. Manche hochbegabte Kinder spüren schon früh, dass sie "irgendwie anders funktionieren" und dass sich ihre Interessen von denen Gleichaltriger unterscheiden. In diesem Fall sorgt es oftmals für Entlastung, wenn man diesen Besonderheiten einen Namen geben kann. Gerade wenn im Zuge der Abklärung besondere Fördermaßnahmen oder gar ein Schulwechsel angeraten wird, ist es wichtig, das Kind entsprechend zu informieren. Ansonsten besteht die Gefahr, dass das Kind sich als "schwarzes Schaf" fühlt und den Eindruck erhält, man wolle es los werden, was sich wiederum negativ auf den Selbstwert auswirkt. 

Wird die Thematik mit dem Kind besprochen, ist es ratsam, eine erfahrene Fachperson hinzuzuziehen. Sie wird dem Kind die Ergebnisse erklären und ihm zeigen, dass es in bestimmten Bereichen anders denkt und schneller auf Lösungen kommt als andere Kinder und ggf. auch besondere Interessen hat. Dies hilft dem Kind, die Informationen besser einzuordnen. Die Fachperson wird dem Kind bestenfalls jedoch auch vermitteln, dass der Intellekt nur ein Teilbereich des Lebens ist und dass jeder Mensch einzigartig ist und besondere Fähigkeiten mitbringt. Sorgfältige und kindgerechte Informationen sollen auch dazu beitragen, dass dem Kind keine Nachteile entstehen. Es kommt leider immer wieder vor, dass sich Kinder durch ein unglückliches Herumreiten auf dem Satz „Ich bin hochbegabt“ beim Umfeld oder bei Gleichaltrigen ins soziale Abseits katapultieren.

Die Beschäftigung mit dem eigenen Intelligenzquotienten ist eine sprichwörtliche Medaille mit zwei Seiten. Die Information, dass ungenügende Schulleistungen nicht auf "Dummheit" zurückzuführen sind, kann unsichere Kinder entlasten und ihr Selbstvertrauen aufbauen. Auf der anderen Seite birgt die Betonung eines hohen Intellekts auch Gefahren. Gerade wenn Eltern sehr stolz darauf sind und immer wieder durchscheinen lassen, dass ihr Kind "besonders begabt" oder "sehr klug ist" und "fast nie etwas lernen muss, weil es alles auf Anhieb kapiert", kann dies dazu beitragen, dass sich das Kind kaum mehr anstrengt. Manche Kinder haben das Gefühl, sich auf ihren Lorbeeren ausruhen zu können, schließlich haben sie bereits bewiesen, was in ihnen steckt. Andere Kinder entwickeln Ängste und gehen schwierigen Aufgaben aus dem Weg. Sie fürchten sich davor, herausfordernden Aufgaben nicht gewachsen zu sein - und davor, dass dies bedeuten könnte, dass sie "gar nicht so klug sind wie alle denken." Sie machen sich Sorgen, ihren Status zu verlieren, wenn sie eine Aufgabe nicht auf Anhieb beherrschen frei nach dem Motto: "Wenn ich so klug wäre, müsste mir das leicht fallen / müsste ich das sofort können - üben ist etwas für Dumme."

Das Motivationsproblem angehen

Manche Eltern und Lehrpersonen, die es mit minderleistenden Hochbegabten zu tun haben, beklagen die mangelnde Motivation dieser Kinder. Vielleicht fällt auf, dass ein Kind Feuereifer für seine Spezialinteressen entwickeln kann, aber deutlichen Widerstand und Unlust in „uninteressanten Schulfächern“ zeigt. Dafür kann es verschiedene Gründe geben. Den ersten Grund haben wir weiter oben bereits kurz angerissen: das Umfeld macht dem Kind immer wieder bewusst, wie talentiert und clever es ist. Damit sinkt die Motivation, sich anzustrengen. Hochbegabte Kinder können sehr sensibel sein und sind keineswegs vor Leistungsängsten gefeit. Widerstand kann immer auch ein aktives Vermeiden sein, um Misserfolge zu erklären, ohne das Selbstbewusstsein angreifen zu müssen: Wer sich gar nicht erst anstrengt, läuft nicht Gefahr, etwaige Misserfolge auf sich selbst beziehen zu müssen. Sie können Ihr Kind unterstüzen, indem Sie:

  • dem Thema Begabung und Intelligenz weniger Aufmerksamkeit beimessen
  • dem Kind immer wieder zurückzumelden, dass Erfolge auch auf Anstrengung beruhen
  • mit dem Kind darüber sprechen, dass schwierige Aufgaben Übung brauchen - selbst wenn man wie Roger Federer ein Profi auf seinem Gebiet ist
  • dem Kind zurückmelden, dass gute Noten dadurch zustande kamen, dass es sich Mühe gegeben hat

Hat ein Kind ohne wesentliche Vorbereitung gute Noten, könnten Sie ebenfalls seine Arbeitshaltung hervorheben, indem Sie etwas sagen wie: "Hey super! Das zeigt, dass du im Unterricht gut aufgepasst hast!" Auf diese Weise stärken Sie die Motivation, sich Mühe zu geben und sich auch mit schwierigeren Aufgaben auseinanderzusetzen.

Manchmal stecken auch andere Gründe hinter den Motivationstiefs: Manche Kinder mussten in ihrer Schullaufbahn schon so häufig Kritik, Korrektur und Abwertung einstecken, dass sich selbst nichts mehr zutrauen. Andere ziehen sich bewusst aus der Leistungswelt zurück, um von Gleichaltrigen nicht als „Streber“ abgestempelt werden. In einigen Fällen hat das Kind aber auch die Erfahrung gemacht, dass das Umfeld ihm mehr Unterstützung und Aufmerksamkeit zukommen lässt, wenn es sich unselbstständig und lustlos verhält. Motivationsprobleme können zudem auch im Zuge einer Depression auftreten, die auch bei hochbegabten Kindern auftreten kann. Der zuständige (Schul-) Psychologe wird diese emotionalen Aspekte in die diagnostische Abklärung mit einbeziehen.

Soziale Integration fördern

Hat Ihr Kind Mühe im sozialen Bereich? Ist es sehr sensibel? Dann sollten Sie als Eltern darauf achten, die Spezialinteressen zu fördern, aber auch Gruppenaktivitäten anzustossen. Besonders hilfreich sind Gruppen, in denen das Kind die Perspektive anderer erlebt (z.B. im Theaterspiel) oder spürt, dass es die Gemeinschaft anderer braucht (z.B. Teamsport oder Teamspiele).

Über Gefühle sprechen

Manche hochbegabte Kinder sprechen nicht gerne über ihre Gefühle und lenken schnell auf ein Terrain ab, auf dem sie sich sicherer fühlen (z.B. Sachthemen). Für diese Kinder wäre es besonders wichtig, Zugang zu sich selbst und ihren eigenen Gefühlen zu entwickeln und zu lernen, mitfühlend mit sich selbst und anderen umzugehen. Als Eltern kann man dies gezielt fördern, beispielsweise durch Fragen wie:

  •  „Wie ging es dir da? Wie hast du dich gefühlt? Was hat das mit dir gemacht?“
  •  „Was meinst du, wie war das für deinen Bruder? Wie hat er das erlebt?“

Gefühle sind nicht immer rational erklärbar. Dies ist für manche Kinder, die stark rational und analytisch denken, ein wenig irritierend. Als Eltern können Sie Ihrem Kind helfen, einen Wortschatz für Emotionen aufzubauen und sie einzuordnen, indem Sie ihm Beobachtungen zurückspiegeln, z.B.:

  • "Heute bist du traurig, hm?"
  • "Das hat dich ganz schön wütend gemacht, gell?!"
  • "Hey, heute bist du ja fröhlich - was war denn?"
  • "Ich glaube, XY da im Film hat Angst, schau mal wie er guckt..."
  • "Schau mal wie sie lächelt, sie freut sich, dich zu sehen!"

Eigene Wege gehen

Manchmal bedeutet ein hochbegabtes Kind zu haben auch, sich ein Stück weit von gesellschaftlichen Erwartungen zu lösen. Vielleicht liest ihr Kind Bücher, die weit über die Empfehlung für seinen Altersbereich hinausgehen, vielleicht versteht es Zusammenhänge, die bei den meisten Erwachsenen Unbehagen auslösen. Oft benötigen diese Kinder weniger Schlaf als Gleichaltrige und Ihr Kind wird vielleicht gleichzeitig ins Bett gehen wie seine älteren Geschwister oder am Morgen topfit auf der Matte stehen, wenn die anderen noch selig schlummern. Wenn es Ihnen gelingt, die besonderen Interessen Ihres Kindes zu fördern und Ihrer Erziehungslinie unabhängig von gesellschaftlichen Bewertungen treu zu bleiben, ist bereits einiges geschafft.

Für Normalität einstehen

Ebenso wichtig wie das Bestreben, die Interessen Ihres hochbegabten Kindes zu fördern, sollte das Bestreben nach einem Stück Normalität sein. Es ist völlig in Ordnung, dass sich der Alltag nicht vollständig um das hochbegabte Kind dreht. Sie machen Ihrem Kind langfristig ein großes Geschenk, wenn Sie von ihm erwarten, dass es sich an Familienaktivitäten beteiligt oder im Haushalt hilft, auch wenn es dies als langweilig empfindet. Dazu gehört auch, den Interessen der Geschwister genügend Platz einzuräumen und diese anzuerkennen, auch wenn diese vielleicht weniger "außergewöhnlich" sind. 

Ein guter Partner sein

Es gibt eine Reihe von Studien, die untersucht haben, welche Aspekte eine gute Betreuung hochbegabter Kinder aus der Sicht der Kinder und Jugendlichen ausmachen. Ein Beispiel dafür findet sich bei Paul Torrance (1978), der über einen langen Zeitraum hochbegabte Kinder betreut und begleitet hat. Er bat sie, zusammenzutragen, welche Lehrkräfte ihr Leben verändert hatten und warum. Was all die genannten Lehrkräfte gemeinsam hatten, war, dass sie…

  • das Kind, seine Ideen, Überzeugungen, seine Gefühle und Verhaltensweisen ernst nahmen und wertschätzten
  • feinfühlig auf die Emotionen des Kindes reagierten und ihm dabei halfen, sie auszudrücken und zu akzeptieren
  • immer wieder verdeutlichten, dass sie das Kind ganz unabhängig von seinen Talenten und Leistungen mochten
  • eine positive Haltung gegenüber den besonderen Eigenschaften des Kindes zeigten und es dafür lobten
  • Interessen akzeptierten, förderten und dabei ermunternd zur Seite standen
  • sich Zeit nahmen, um sich individuell mit jedem einzelnen zu beschäftigen
  • mehr Wert auf Anstrengung und Versuchen legten als auf Erfolge
  • betonten, wie wertvoll die Zusammenarbeit und das Miteinander ist

Autorenteam

Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund sind Psychologen, Autoren und leiten gemeinsam die Weiterbildung in Lerncoaching in Zürich.

Akademie für Lerncoaching
Albulastrasse 57
8048 Zürich

Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!