"Wir Erwachsenen sind wichtige Konzentrationsvorbilder" - Interview mit Buchautor Detlef Träbert
Haben Kinder und Jugendliche heute tatsächlich mehr Mühe, sich zu konzentrieren als früher? Wie entwickelt sich die Fähigkeit, sich zu fokussieren? Und welche Rolle kommt uns als Eltern dabei zu? Im Interview nimmt Detlef Träbert, Buchautor und Schulberater, Stellung zu diesen und weiteren Fragen.

Detlef Träbert: Die Befundlage ist leider nicht so eindeutig, wie man sich das wünschen würde. Das liegt daran, dass die verschiedensten Institutionen Befunde erheben, die den Begriff „Konzentration“ entweder unterschiedlich oder gar nicht definieren. Aber wenn man deren Ergebnisse in einer Zusammenschau interpretiert, kann man von mindestens 50 Prozent Kindern im Grundschulbereich und von rund 40 Prozent Jugendlichen in der Sekundarstufe (Jahrgänge 5-10) ausgehen, deren Konzentrationsvermögen stark beeinträchtigt ist. Solche Durchschnittswerte sagen jedoch nichts aus über die Situation in bestimmten Stadtvierteln und ihren Schulen. In sozialen Brennpunkten fallen die Quoten wesentlich höher aus als in sozial bevorzugten Gegenden.
Wie entwickelt sich die Fähigkeit, sich zu konzentrieren? Welche Faktoren beeinflussen diese Entwicklung?
Detlef Träbert: Schon bei Babys kann man erste Ansätze beobachten, wenn man ihnen mit der Rassel etwas vorklappert oder sie nach einem Spielzeug greifen lässt. Aber genau genommen sind das Anzeichen von Aufmerksamkeit. Schon kleine Kinder werden aufmerksam, wenn sie etwas bemerken, das sie neugierig macht. Konzentration hingegen nennen wir eine aufmerksame Haltung in Momenten, in denen wir nicht neugierig sind. Erst mit dem Schulleben kommen unsere Kleinen gehäuft in solche Situationen, wo sie genau zuhören, hinschauen oder etwas nachmachen sollen.
Im Vorschulalter sollen sie zwar auch beim Vorlesen zuhören oder beim Bewegungslied mitmachen, aber da werden Abweichungen vom verlangten Verhalten noch nicht sanktioniert. In der Schule jedoch werden Aufmerksamkeit und konzentriertes Lernverhalten gefordert. Als Vorbereitung dafür dienen im Vorschulalter Gesellschaftsspiele, das Vorlesen etwa von Gute-Nacht-Geschichten, das gemeinsame Anschauen von Bilderbüchern, Helfenlassen bei einfachen Haushaltstätigkeiten oder, wo man das noch pflegt, Beten vor dem Essen oder zum Nachtschlaf.
Soeben ist Ihr neues Buch "Konzentration - der Schlüssel zum Schulerfolg" erschienen. Sie schreiben darin von uns Erwachsenen als "Konzentrationsvorbild". Wie meinen Sie das? Und was kann ich als Elternteil tun, um ein gutes Konzentrationsvorbild abzugeben?
Detlef Träbert: Einen großen Anteil an den heute so weit verbreiteten Konzentrationsschwierigkeiten unserer Kinder haben Veränderungen im Alltagsverhalten von uns Erwachsenen. Ich habe als Kind aus dem Jahrgang 1953 früher nie Menschen gesehen, die beim Gehen auf der Straße gleichzeitig mit dem Smartphone aktiv waren – es gab diese Geräte ja noch gar nicht. Aber ich konnte als Kind durch das Abschauen lernen, wie ich auf meine Schritte acht geben musste, dass ich Erwachsene grüßen sollte oder was man alles bei einem Spaziergang zu sehen und zu hören bekam. Ahnen Sie, was schon einem Baby fehlt, wenn es von seinem Papa mit aufgesetztem Kopfhörer und auf Inlinern im Kinderwagen „spazieren gerast“ wird? Auch im Haushalt erleben Kinder Multitasking-Eltern, etwa wenn die Mama oder der Papa beim Bügeln Fernsehen schaut und nebenbei mit jemandem telefoniert oder einen Einkaufszettel schreibt. Und der Papa muss beim gemeinsamen Frühstück unbedingt mit dem Smartphone Nachrichten checken und Termine koordinieren.
Hilfreich wäre es, wenn Eltern das Prinzip „eins nach dem anderen“ praktizierten: Beim Essen wird gegessen, beim Bügeln gebügelt, beim Telefonieren telefoniert und beim Fernsehen wird ferngesehen. Tatsächlich spart man gar keine Zeit, wenn man Vieles gleichzeitig tut – nur die Qualität des Getanen wird schlechter.
Kindern mit Aufmerksamkeitsproblemen und / oder Hyperaktivität wird oft vorgeworfen, dass sie "könnten, wenn sie nur wollten". Wie sehen Sie das?
Detlef Träbert: Es ist genau umgekehrt; diese Kinder wollten, wenn sie nur könnten. Es ist ja gerade eines der Leitsymptom bei ADHS, dass man seine Aufmerksamkeit nicht so lange auf etwas richten kann wie andere. Nun gibt es von ADHS betroffene Kinder, die sehr lange aufmerksam LEGO oder mit ihrer Eisenbahn spielen können. Doch das sind Phasen „automatischer Aufmerksamkeit“, die jeder Mensch kennt, wenn er etwas tun kann, was ihm Spaß macht. Konzentration hingegen ist „gerichtete Aufmerksamkeit“, die man auch aufbringt, wenn man das eigentlich nicht will, aber soll. ADHS-Kinder haben also nur mit dieser gerichteten Aufmerksamkeit, der Konzentration, ein Problem. Deswegen brauchen sie alle paar Minuten und immer wieder Mini-Pausen von einer Minute, in denen sie sich bewegen und kleine gymnastische Übungen vollführen. Flaschenstemmen und andere „Kraftübungen“ helfen ihnen dabei am besten, während Hüpfen, Springen und Tanzen, also Bewegungsübungen, nur verhindern, dass sie anschließend wieder ruhig weiterarbeiten können.
Lassen Sie uns noch über Flüchtigkeitsfehler sprechen: Diese sind für Eltern, aber auch die Kinder selbst sehr frustrierend. Wie soll man darauf reagieren?
Detlef Träbert: Flüchtigkeitsfehler passieren, übrigens nicht nur Kindern, wenn man mit der Aufmerksamkeit nicht voll bei der Sache ist. Unsere Konzentration reicht immer nur für einen begrenzten Zeitraum. Wie lange können Sie einen spannenden Roman am Stück lesen? Vermutlich mindestens die halbe Nacht hindurch. Wie lange dauert es bei der Lektüre eines trockenen Fachbuchs, bis Sie zurückblättern, weil Sie die letzten Abschnitte einfach überlesen haben? Im Durchschnitt eine halbe Stunde. Die Aufmerksamkeitsspanne eines Kindes liegt im Alter der Einschulung bei 10-15 Minuten, am Ende der Grundschule bei 20-25 und ab der Pubertät bei 30 Minuten. Tatsächlich erfordern die Hausaufgaben jedoch längere Zeiten. Wer das Prinzip der Mini-Pausen kennt, wird schneller fertig und macht weniger Fehler, weil alle 5-10 Minuten die einminütige Bewegungs-Übung für bessere Konzentration sorgt. ADHS-Kinder dürfen sogar alle 1-2 Minuten eine Mini-Pause machen, wenn sie das brauchen. Damit wird die Zahl der Flüchtigkeitsfehler deutlich nachlassen.
Eine Aussage aus Ihrem Buch hat mich persönlich sehr angesprochen: "Ob Eltern starke Eltern sind, zeigt sich besonders dann, wenn Träume und Hoffnungen bezüglich der kindlichen Entwicklung nicht in Erfüllung gehen". Vielleicht möchten Sie dazu ein Beispiel aus Ihrer Arbeit erzählen?
Detlef Träbert: Derlei Beispiele gibt es massenhaft. Aber lassen Sie mich von Sven* erzählen. Er ist jetzt im dritten Schuljahr, seine Leistungen jedoch sehen eher nach dem ersten aus. Es fehlt ihm an Anstrengungsbereitschaft. Er ist Einzelkind und seine Eltern haben immer versucht, ihm alles zu bieten, was nur geht. Er musste sich nie anstrengen und bekommt doch mehr an Geschenken und Freizeitattraktionen als die meisten anderen Kinder. So konnte er nie Anstrengungsbereitschaft entwickeln und Leistungsmotivation aufbauen. Seine Eltern sind nun an dem Punkt, wo sie zu verstehen beginnen, dass die permanente (Über-)Erfüllung von Wünschen ihrem Kind die Chance raubt, Anstrengungsbereitschaft zu entwickeln. Sie haben sogar schon einen Termin beim Kinderpsychiater vereinbart, um Svens Lernfähigkeit genauer abklären zu lassen. Ich rechne damit, dass seine Intelligenz gar nicht das Problem ist und hoffe, sie nehmen das Beratungsangebot des Facharztes an. Wenn die Eltern begreifen, dass ihre Verwöhn-Haltung das primäre Problem ist und nicht die Anstrengungsverweigerung des Kindes, haben sie eine Chance, umzusteuern. Wenn sie im Alltag mehr Konzentration mit dem Kind leben, bei Gesellschaftsspielen, bei der Hausarbeit etc., hat Sven eine Chance, seine Konzentration zu verbessern und motiviert Ziele anzugehen. Wenn der Junge im Familienalltag erlebt, dass es Ziele gibt, die man anstreben und nicht auf Anhieb, sondern nach und nach realisieren kann, wenn er Wünsche haben kann, von denen er eine Weile träumen darf, wenn er bei Gesellschaftsspielen erlebt, dass Gewinnen und Verlieren sich auf Dauer die Waage halten und niemand immer siegreich ist – dann hat er eine gute Chance.
*Name geändert
Über Detlef Träbert
Detlef Träbert ist Diplom-Pädagoge. Während 18 Jahren war er als Beratungslehrer in Baden-Württemberg tätig, bevor er sich 1996 mit seinem Schubs-Schulberatungsservice selbstständig machte. Heute lebt er in Köln, ist Autor mehrerer Elternratgeber und Förderprogramme und reist zu rund 80 Vortrags- und Seminarterminen pro Jahr.
Sein jüngstes Buch: „Konzentration – der Schlüssel zum Schulerfolg“ (MEDU Verlag Dreieich):
Aktuell: Unsere Seminare
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