Aufmerksamkeitsdefizit / Hyperaktivität

Abklärung / Diagnostik der ADHS und ADS

Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund (www.mit-kindern-lernen.ch)

Wenn Kinder oder Jugendliche häufig unaufmerksam wirken, besonders hibbelig beziehungsweise impulsiv erscheinen, kommt bei Eltern, aber auch bei schulischem Personal, schnell der Verdacht auf, es könne ADS oder ADHS dahinterstecken. Doch wie wird eine Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung eigentlich festgestellt?

Hinweis: Die Bezeichnung ADS wird von Eltern und Betroffenen häufig genutzt, wenn die Verträumtheit das Hauptproblem darstellt - sie ist aber veraltet. Die offizielle Diagnose lautet auch hier ADHS, wobei man drei Erscheinungsbilder unterscheidet. Mehr dazu erfährst du hier.

Wer führt ADHS-Diagnostik durch? An wen wendet man sich für eine ADHS-Abklärung?

Häufig ist die kinderärztliche Fachperson die erste Anlaufstelle für Eltern, die sich wegen Aufmerksamkeits- und Konzentrationsproblemen, starker körperlicher Unruhe oder sozialen Schwierigkeiten ihrer Kinder sorgen. Kinder- und Jugendmediziner/innen werden das Kind vornehmlich körperlich untersuchen, den Entwicklungsstand einschätzen und die Motorik prüfen. Dies reicht jedoch für eine umfassende Diagnostik nicht aus.

Ein meist umfangreicheres und detaillierteres Bild ergibt sich in einer ganzheitlichen Abklärung bei Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut/innen oder Fachärzt/innen für Kinder- und Jugendpsychiatrie, die für die Diagnostik von ADHS besonders geschult sind.

Ab welchem Alter kann ADHS diagnostiziert werden?

Die offiziellen Leitlinien zur Diagnostik und Behandlung von ADHS sehen folgende Abstufungen vor (vgl. AWMF):

  • Die Diagnose ADHS soll vor dem Alter von drei Jahren nicht vergeben werden.
  • Bei Kindern im Alter von drei bis vier Jahren kann die Diagnose in der Regel nicht zuverlässig gestellt werden.
  • Bei Kindern im Vorschulalter soll die Diagnose in der Regel nur bei sehr starker Ausprägung der Symptomatik gestellt werden (und ist mit Unsicherheiten behaftet).
  • Je jünger die Kinder sind, desto schwieriger ist eine Abgrenzung zur Bandbreite von „normalen“ Entwicklungsverläufen.

Demnach ist eine zuverlässige Diagnosestellung in der Regel ab dem Eintritt in die erste Klasse möglich. Da starke Unruhe und Ablenkbarkeit im Kleinkind- und Kindergartenalter aber ein ernstzunehmender Risikofaktor ist, lohnt es sich, bei Auffälligkeiten in diesem Bereich frühzeitig eine Fachperson beizuziehen – auch wenn ADHS gegebenenfalls erst später bestätigt wird.

Wie läuft eine professionelle Abklärung auf ADHS ab?

Eine professionelle Abklärung durchläuft mehrere Schritte, wobei sich der Ablauf von Diagnostiker/in zu Diagnostiker/in unterscheiden kann.

Eine Fachärztin / ein Facharzt erhebt körperliche Krankheiten und die Funktionsfähigkeit des Gehirns

Bevor eine (psychologische) ADHS-Abklärung erfolgt, wird das Kind in der Regel zum Kinderarzt und zur Neurologin überwiesen. Dies ist wichtig, um ausschließen zu können, dass eine körperliche Ursache für die Verhaltensauffälligkeiten verantwortlich ist. Denn manchmal sind Konzentrationsschwierigkeiten und / oder körperliche Unruhe allein auf körperliche Ursachen zurückzuführen, z.B. auf eine Seh- oder Höreinschränkung, auf Mangelerscheinungen, eine Schilddrüsendysfunktion etc. Werden diese körperlichen Einschränkungen behandelt, verschwindet auch die Symptomatik - es wird keine ADHS diagnostiziert. In diesem Zusammenhang werden auch Hirnströme mittels EEG gemessen, um sicher zu gehen, dass die Aufmerksamkeits- oder Konzentrationsprobleme nicht mit einer hirnorganischen Veränderung /oder Abnormalität zusammenhängen bzw. eine Epilepsie vorliegt, die die Absencen erklärt.

Die Fachperson führt ein Erstgespräch mit Eltern und Kind

Wenn eine körperliche Ursache im Zusammenhang mit ADHS-typischen Verhaltensweisen ausgeschlossen ist, werden die Eltern mit ihrem Kind meist bei Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut/innen oder einer fachärztlichen Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie vorstellig, in manchen Kantonen auch beim Schulpsychologischen Dienst.

Dort wird anfangs die Vorgeschichte des Kindes erfragt. Hier kommen Schwangerschaftsumstände, Meilensteile der kindlichen Entwicklung (Krabbeln, Laufen, Sauberkeitserziehung), aber auch bisherige Krankheiten und Allergien des Kindes und der Familie, sowie psychische Auffälligkeiten zur Sprache. Die Familienanamnese ist zentral, da ADHS eine starke erbliche Komponente aufweist und in Familien gehäuft auftritt. Die Fachperson wird sich im Gespräch auch ein erstes Bild über den Leidensdruck der Eltern und des Kindes, die Familien- und Betreuungssituation sowie über die Beziehungen des Kindes machen.

Fachpersonen greifen dabei auch auf strukturierte Interviews zurück, zum Beispiel:

  • DISYPS-III (Diagnostik-System für psychische Störungen nach ICD-10 und DSM-5)
  • K-DIPS (Kinder-DIPS) – Diagnostisches Interview bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter
  • MINI-KID (Mini International Neuropsychiatric Interview for Children and Adolescents)
  • CASCAP-D / FBB / SBB (Kinder- und Jugendpsychiatrisches Basisdiagnostik-System)

 

Zudem beziehen Fachpersonen, wo immer möglich, auch Informationen von außen mit ein (z.B. von Lehrkräften, Erzieher/innen, aus schriftlichen Berichten und Zeugnissen). Meist wird das Umfeld gebeten, das Verhalten des Kindes mittels Fragebogen einzuschätzen. Wie erleben unterschiedliche Bezugspersonen des Kindes, z.B. Eltern und Lehrkräfte oder Sporttrainer/innen, die Verhaltensauffälligkeiten des Kindes? Bekannte Fragebögen und Checklisten sind beispielsweise die „Child Behavior Checklist“ (CBCL/TRF), das „Diagnostik-System für psychische Störungen“ (DISYPS-III), die „Conners Skalen zu Aufmerksamkeit und Verhalten“ (Conners-3) oder die Diagnosecheckliste ADHS (DCL).

Ergänzend dazu werden oft Fragebögen ausgegeben, die die familiäre Situation, das Verhältnis zu Eltern und Geschwistern und die allgemeinen Rahmenbedingungen der Erziehung abbilden sollen.

Ist das Kind beim Erstgespräch anwesend, so kann die Fachperson sich selbst einen Eindruck vom Verhalten des Kindes machen. Sie wird das Kind nach seiner Einschätzung fragen, mit ihm spielen, etwas malen oder kleine Aufgaben lösen und dabei sein Verhalten beobachten. Daraus entsteht eine erste grobe Einschätzung.

Das Kind durchläuft eine testdiagnostische Abklärung

Eine wichtige Säule, die die Diagnose ADHS trägt, ist die sogenannte Testdiagnostik. Hier wird unter anderem die Leistungsfähigkeit des Kindes in verschiedenen Bereichen mittels standardisierter Testverfahren überprüft.

Die meisten Fachpersonen beginnen mit einem Intelligenztest (z.B. Wechsler Intelligenztest für Kinder (WISC-V) oder Kaufman Assessment Battery for Children (K-ABC II). Kinder mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung bleiben aufgrund ihrer Verhaltensprobleme oft weit hinter ihrem eigentlichen Potenzial zurück. Andererseits können sich hinter Verhaltensweisen, die nach außen hin auf eine ADHS hindeuten, auch eine Hoch- oder Minderbegabung bzw. eine Über- oder Unterforderung in der Schule verbergen. Nicht zuletzt deshalb ist eine Intelligenzabklärung oft ein wichtiger Bestandteil der ADHS-Diagnostik. Für standardisierte Intelligenztest existieren Altersnormen, sodass das individuelle Testergebnis des Kindes mit dem Normwert für die betreffende Altersstufe verglichen werden kann.

Um die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit des Kindes über den Intelligenztest hinaus zu ermitteln, werden häufig Aufmerksamkeits- und Konzentrationstests auf Papier oder am Computer durchgeführt, zum Beispiel der d2-R, KITAP (Kindertestbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung), TAP (Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung) oder CPT (Continuous Performance Test). Dabei müssen Kinder beispielsweise Bilder auf Unregelmäßigkeiten hin vergleichen und gleiche Bildpaare finden oder unter Zeitdruck vorgegebene Symbole durchstreichen oder ergänzen. Diese Tests zeigen unter anderem, wie lange die Konzentrationsspanne des Kindes ist, wie leicht es sich ablenken lässt, wie gut es seine Impulse hemmen kann und wie seine allgemeine Reaktionsgeschwindigkeit ist.

Manchmal werden zusätzlich Tests zur visuellen und auditiven Merkfähigkeit angewendet. Dabei muss das Kind sich etwa ein vorher gezeigtes geometrisches Muster merken und anschließend aus dem Gedächtnis nachzeichnen oder sich bestimmte mündlich vorgegebene Inhalte einprägen.

Während der gesamten Testdiagnostik wird die diagnostizierende Fachperson das kindliche Verhalten beobachten. Sie wird sich ein Bild über die Konzentrationsfähigkeit machen, wird sehen, wie leicht es sich ablenken lässt, wie zügig es arbeitet und wie viel Widerstand es zeigt. Auch wird häufig ein Augenmerk darauf gelegt, wie gut das Kind Frustrationen aushalten kann und wieviel Ausdauer es bei schwierigen Aufgaben zeigt (= Frustrationstoleranz). Zudem wird die Fachperson eine Einschätzung über das Niveau der körperlichen Unruhe treffen. Manchmal erfolgt ein Schulbesuch, um das Kind im Unterricht zu erleben und das Ausmaß seiner Schwierigkeiten noch besser einzuschätzen.

Darüber hinaus wird der Entwicklungsstand des Kindes erhoben. Dies kann beispielsweise über die Überprüfung von Körpergröße, Sprache, Kontaktverhalten, Reaktion bei der Trennung von den Eltern, Körperkoordinationsfähigkeit und Auge-Hand-Koordination und räumlicher Orientierungsfähigkeit geschehen.

Ein wichtiger Teil ist außerdem die emotionale Diagnostik. Hier geht es um Fragen wie „Wie schätzt sich das Kind selbst ein? Wie steht es um sein Selbstwertgefühl? Wie ist seine Grundstimmung? Welche Sorgen beschäftigen es? Wo ist der Platz des Kindes innerhalb der Familie? Welche Haltung hat es zur Schule? Wie ist die Beziehung zu den Lehrkräften? Wie zufrieden ist das Kind mit seinen sozialen Kontakten?“. Die emotionale Diagnostik ist wichtig, um herauszufiltern, ob die Konzentrationsprobleme und körperliche Unruhe beispielsweise mit emotionalen Belastungen oder Gefühlsverstimmungen des Kindes zusammenhängen. Viele Kinder entwickelt kurzfristig ADHS-ähnliche Symptome, wenn sich ihre Lebenssituation stark verändert, etwa nach einem Umzug, der Trennung der Eltern oder dem Tod einer nahestehenden Person. In manchen Fällen zeigt sich der ADHS-Verdacht als unbegründet, vielmehr verbirgt sich hinter den vermeintlichen Symptomen eine Belastungsreaktion auf Mobbing in der Schule oder die Ausgrenzung durch Gleichaltrige. 

Die Fachperson erstellt einen abschließenden Befund und hält diesen in einem Abklärungsbericht fest

Alle Komponenten, d.h. die Vorgeschichte, die Verhaltensbeobachtung des Kindes, die Einschätzung des kindlichen Verhaltens durch Eltern und Lehrer/innen und die Ergebnisse der Testdiagnostik und emotionalen Diagnostik fließen in den abschließenden Befund mit ein. Wie dir vielleicht aufgefallen ist, enthält ein großer Teil der ADHS-Abklärung eine stark subjektive Komponente. Je nachdem, wie du selbst und die Lehrkräfte das kindliche Verhalten einschätzen und die Fragebögen ausfüllen und wie die Fachperson das Verhalten des Kindes beurteilt, wird sich der Befund verändern. Nicht unerheblich für die Diagnosestellung ist auch, wie das Kind in der Testsituation gerade reagiert und welche Verfahren genau eingesetzt werden. Die Verhaltensbeobachtung durch die Diagnostiker/in spiegelt den Eindruck wider, den sie innerhalb von einigen Stunden von deinem Kind gewonnen hat. Du selbst kennst dein Kind am besten und weißt, dass das Verhalten deines Kindes auch von der Tagesform abhängen kann oder dass sich ein Kind in einer neuen Umgebung (wie einer psychotherapeutischen Praxis) manchmal ganz anders verhält als gewöhnlich.

Es wird somit nochmals klarer, dass die ADHS-Diagnostik kein „Bluttest“ ist, aus dem man klare Schlüsse (vorhanden/nicht vorhanden) ableiten kann. Vielmehr ist der abschließende fachärztliche Befund ein Mosaik, die einige subjektive Komponenten mit einschließen. Die Testergebnisse der standardisierten Testverfahren allein reichen für eine Diagnose nicht aus. Es ist also das „Gesamtpaket“, welches zur Diagnose ADHS führt oder nicht.

Eine Abklärung benötigt oft mehr Zeit als vermutet!

Immer wieder erleben wir Familien, die seit Jahren einen ADHS-Verdacht mit sich herumtragen und abwarten wollen, solange das Kind noch in der Lage ist, seine Schwierigkeiten zu kompensieren. Oft entwickelt sich daraus aufseiten des Kindes mit der Zeit eine immer größere Erschöpfung, das Gefühl „es sowieso nicht zu können“, „dumm zu sein“ oder „es eh niemandem recht machen zu können“. Erst wenn der Leidensdruck fast unerträglich wird oder das Kind in eine Krise rutscht, wenden sich diese Familien an Fachstellen wie den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst (KJPD) oder das nächstgelegene Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ) – und sind dann ob der langen Wartefristen geschockt.

Stelle dich darauf ein, dass es keine Seltenheit ist, 6 bis 12 Monate auf einen Platz zur ADHS-Diagnostik warten müssen. Auch die Abklärung selbst zieht sich oft über mehrere Monate hin und anschließend dauert es häufig noch einmal mehrere Monate bis zu einem Jahr oder mehr, bis ein entsprechender Therapieplatz frei wird.

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Die Autoren Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler leiten gemeinsam die Akademie für Lerncoaching in Zürich.
Die beiden verbindet eine große Begeisterung und Leidenschaft für das Schreiben von Büchern.

Akademie für Lerncoaching
Albulastrasse 57
8048 Zürich

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