Was ist ADHS?
Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler
Wenn ein Kind in der Schule ständig träumt oder sich ablenken lässt, seine Hausaufgaben vergisst oder impulsiv dazwischenruft, liegt schnell der Verdacht auf „ADHS“ in der Luft.
Doch was genau verbirgt sich eigentlich hinter dieser oft gebrauchten Abkürzung? Und wie lässt sich das Verhalten von betroffenen Kindern besser verstehen?
Was bedeutet ADHS?
ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Es handelt sich um eine neurologische Besonderheit, bei der bestimmte Bereiche des Gehirns – insbesondere jene, die für Aufmerksamkeit, Impulskontrolle, Motivation und Handlungsplanung zuständig sind – anders funktionieren.
Dabei ist wichtig zu wissen:
- ADHS ist keine Folge von schlechter Erziehung. Die Erziehung beeinflusst lediglich den Verlauf.
- ADHS ist kein Zeichen von Faulheit oder mangelnder Intelligenz.
- ADHS ist keine Modeerscheinung – sondern seit Jahrzehnten wissenschaftlich erforscht.
Was manche überrascht: Auch viele Erwachsene sind betroffen, oft ohne es zu wissen – und schauen erst rückblickend auf eine Kindheit voller innerer Anstrengung, Missverständnisse und Frustration zurück.
Was sind die Kernsymptome?
Die drei Hauptmerkmale von ADHS sind:
- Unaufmerksamkeit: Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit über längere Zeit auf eine Sache zu richten, sich zu organisieren, Details wahrzunehmen oder bei Aufgaben dabeizubleiben.
- Hyperaktivität: Eine innere oder äußere Unruhe, ständiger Bewegungsdrang, das Gefühl, „nicht stillhalten zu können“.
- Impulsivität: Überstürztes Handeln ohne Nachdenken, Schwierigkeiten, sich zu bremsen, ständiges Unterbrechen anderer.
Je nach Ausprägung überwiegt die Unaufmerksamkeit oder die Hyperaktivität/Impulsivität oder es zeigen sich Symptome in allen Bereichen. Deshalb unterscheidet man drei Formen von ADHS:
Die drei Varianten von ADHS im Überblick
1. ADHS mit vorwiegend unaufmerksamem Erscheinungsbild (diese Variante wird im Alltag und von Betroffenen immer noch oft als ADS bezeichnet)
Diese Kinder wirken auf den ersten Blick oft still, verträumt oder schüchtern. Sie fallen nicht durch Unruhe auf – aber sie tun sich sehr schwer, dem Unterricht zu folgen. Typisch sind:
- häufiges Abschweifen der Gedanken und Tagträumen
- Nicht zuhören
- Abneigung gegen Aufgaben, die eine längere geistige Anstrengung erfordern
- langsames oder unvollständiges Bearbeiten von Aufgaben
- Schwierigkeiten, Anweisungen zu folgen
- Vergesslichkeit und Probleme damit, Ordnung zu halten
Beispiel
Lotte aus unserem Roman «Lotte, träumst du schon wieder?» zeigt alle Anzeichen eines Mädchens mit ADHS mit vorwiegend unaufmerksamem Erscheinungsbild. Sie spielt morgens mit dem Wasserhahn und träumt von Piratenabenteuern anstatt ihren Schulrucksack zu packen. Sie trägt die Prüfung in der falschen Woche ein und vergisst ihre Hausaufgaben. Immer wieder ärgern sich ihre strenge Lehrerin, Frau Luchs, und ihre besorgte Mutter über ihre Verträumtheit.
Lotte selbst leidet unter ewigen Hausaufgabenmarathons und ihrer Vergesslichkeit. Zum Glück erfährt sie von der weisen Wölfin Sakiba, dass Tagträumen eine wichtige Fähigkeit ist!
Und sie zeigt ihr den Wolfsblick: Die Fähigkeit, sich auf Kommando für eine kurze Zeit voll und ganz auf eine Aufgabe zu fokussieren.
Unser Roman handelt von einem Mädchen, da gerade Mädchen mit dieser Form von ADHS oft übersehen und spät oder gar nicht diagnostiziert werden.
Vielen von ihnen gelingt es, ihre Schwierigkeiten lange durch viel Fleiß zu kompensieren.
Sie scheinen zu «funktionieren» und stören nicht – dabei leiden sie selbst oft sehr darunter, dass sie trotz großer Anstrengungen nicht zu genügen scheinen.
2. Hyperaktiv-impulsive Variante
Diese Kinder sind ständig in Bewegung, können kaum stillsitzen, reden viel und handeln oft „aus dem Bauch heraus“. Häufige Merkmale sind:
- zappeln oder herumlaufen, obwohl Stillsitzen erwartet wird
- dazwischenrufen, ohne sich zu melden
- andere unterbrechen
- Schwierigkeiten zu warten
- Ständig in Bewegung sein – wie von einem Motor angetrieben
- Heftige Gefühlsreaktionen
- Mühe, sich an Regeln zu halten
Beispiel
Der junge Wolf im folgenden Video zeigt viele Merkmale eines Kindes mit ADHS mit vorwiegend hyperkativ-impulsivem Erscheinungsbild. Er kann nicht warten, bis er an der Reihe ist und ruft die Antworten in die Klasse, ohne sich vorher zu melden. Die anderen Kinder ärgern sich zunehmen darüber, dass er sich nicht an die Regel hält. Auf dem Pausenhof zeigt sich ein ähnliches Bild: Der Wolf stürmt auf den Fußballplatz und schießt gleich ein Tor – ohne vorher zu fragen, ob er mitspielen darf und sich in eine Mannschaft aufnehmen zu lassen.
Zum Glück unterstützt ihn Lehrer Dachs mit einem Wenn-Dann-Plan. Und auch auf seinen Freund, den Bären, kann sich der junge Wolf verlassen:
Oft erleben hyperaktiv-impulsive Kinder leider nicht so viel Unterstützung und Wohlwollen, sondern viel Kritik von Eltern, Lehrkräften und Mitschüler/innen, was langfristig ihr Selbstbild beschädigen kann.
3. Kombiniertes Erscheinungsbild
Diese Kinder zeigen sowohl unaufmerksame als auch hyperaktiv-impulsive Merkmale. Ihr Alltag ist oft besonders anstrengend – für sie selbst, aber auch für ihr Umfeld. Sie sind rasch abgelenkt, ständig in Bewegung, emotional sehr impulsiv und häufig in Konflikte verwickelt.
Beispiel:
Mira beginnt eine Rechenaufgabe, kritzelt eine Zeichnung an den Rand, will ihrer Sitznachbarin etwas zeigen, steht kurz auf und läuft zum Wasserhahn, um einen Schluck zu trinken, bleibt auf dem Rückweg bei einer anderen Schülerin stehen, wird dafür ermahnt - und hat nach fünfzehn Minuten kaum etwas erledigt – obwohl sie klug ist und eigentlich viel weiß.
Auch Kinder mit ADHS können sich konzentrieren – sie haben aber ein Problem mit der bewussten Aufmerksamkeitslenkung
Viele Missverständnisse entstehen, weil Erwachsene glauben: „Wenn das Kind will, kann es sich doch konzentrieren.“
Tatsächlich können sich Kinder mit ADHS teilweise sehr gut konzentrieren, wenn sie beispielsweise etwas aus Lego bauen oder ein Buch zu einem Thema lesen, das sie brennend interessiert.
Kinder mit ADHS haben kein generelles Konzentrationsproblem, sondern ein Problem mit der willentlichen Lenkung der Aufmerksamkeit. Sie können sich fokussieren – aber nicht dann, wenn es von außen erwartet wird, sondern nur, wenn sie emotional „gepackt“ bzw. intrinsisch motiviert sind. Dann aber gelingt es vielen von ihnen sogar, zu hyperfokussieren und ganz in einer Tätigkeit aufzugehen.
Wie sich ADHS auf das Selbstbild auswirkt
Kinder mit ADHS erhalten oft über Jahre hinweg Botschaften wie:
- „Streng dich ein bisschen an!“
- „Jetzt konzentrier dich doch!“
- „Bist du immer noch nicht weiter?“
- „Warum kannst du dir das nicht merken?“
- „Jetzt sitz mal still!“
- „Musst du immer alles vergessen?!“
Solche Sätze führen nicht zur Besserung – sondern zum Aufbau von Scham, Frustration und dem Gefühl, nicht gut genug zu sein. Dabei geben sich diese Kinder oft mehr Mühe als andere – sie haben nur weniger sichtbaren Erfolg.
Umso wichtiger ist es, dass Erwachsene lernen, das Verhalten von Kindern mit ADHS zu verstehen, statt es vorschnell zu verurteilen. Dadurch gelingt es uns Schritt für Schritt, unsere Kinder mehr so anzunehmen, wie sie sind, die Umgebung so anzupassen, dass Ihre Stärken zum Vorschein kommen und Schwierigkeiten abgemildert werden und gemeinsam mit ihnen wichtige Fertigkeiten zu trainieren. Wie das gelingen kann, erfährst du beispielsweise im Artikel "Was verträumten Kindern und Kindern mit ADHS beim Lernen hilft".
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Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler sind Psychologen und leiten die Akademie für Lerncoaching. Das Experten-Team führt Seminare für Eltern, Weiterbildungen für Fachpersonen sowie Vorträge an Schulen rund um das Thema Lernen durch. Die beiden verbindet eine große Begeisterung und Leidenschaft für das Schreiben von Büchern.