Schüler/innen mit Autismus-Spektrum-Störungen unterstützen: Interview mit ASS-Expertin Antje Tuckermann
Stefanie Rietzler: Frau Tuckermann, Sie sind Psychologische Psychotherapeutin und haben sich auf „Autismus-Spektrum-Störungen“ (ASS) spezialisiert. Wie kam es dazu?
Antje Tuckermann: Ich bin mit dem Thema Autismus schon sehr lange verbunden, da ich mit einer autistischen Pflegeschwester aufgewachsen bin. Deshalb kenne ich die damit verbundenen Herausforderungen auch aus der Angehörigenperspektive und habe für mich entschieden, auch meine fachliche Tätigkeit danach auszurichten.
Ich arbeite unter anderem nach dem TEACCH-Ansatz. Dieser für mich unglaublich wertvolle Ansatz wird ergänzt durch mein psychotherapeutisches Wissen, welches insbesondere in der Zusammenarbeit mit hochfunktionalen Personen mit ASS eine wichtige zweite methodische Quelle darstellt.
Stefanie Rietzler: Sie leiten die Team Autismus GbR. Wie sieht Ihr Arbeitsalltag dort aus? Mit welchen Anliegen kommen die Klienten zu Ihnen?
Antje Tuckermann: Team Autismus besteht aus drei unterschiedlichen Bereichen: zum einen eine Therapiestelle, in der weit über 100 Klienten aus dem Autismus Spektrum aller Altersklassen angebunden sind, zum anderen aus dem Bereich der Akademie, die sich zum Ziel gesetzt hat, über Fortbildungen und institutionelle Beratung Unterstützung anzubieten. Die Therapiestelle wird ergänzt durch die BUKA (Beratungsstelle Unterstützte Kommunikation und Autismus). Diese richtet sich an Menschen mit ASS, die kaum oder nicht sprechen können und umfasst Maßnahmen zur Förderung und Erweiterung der kommunikativen Kompetenzen.
Die Anliegen sind daher sehr vielfältig und reichen von sehr konkreten Alltagsproblemen im Familienleben, der Schule oder dem Beruf bis hin zu diagnostischen und psychotherapeutischen Fragestellungen.
Stefanie Rietzler: In Ihrem Buch beschäftigen Sie sich mit der Frage, wie Schüler/innen mit ASS im Schulalltag unterstützt werden können. Auf welche Schwierigkeiten stoßen diese Kinder und Jugendlichen Ihrer Erfahrung nach in der Schule? Was ist für sie besonders schwierig?
Antje Tuckermann: Schüler/innen mit Autismus-Spektrum-Störung haben unserer Erfahrung nach – unabhängig von ihren intellektuellen Fähigkeiten – häufig mit folgenden Herausforderungen zu kämpfen:
Herausforderungen für Schüler/innen mit ASS
- Sprachlichen Mitteilungen die Bedeutung entnehmen / Wortwörtliches Sprachverständnis
- Sprachliche Anweisungen (prompt) umsetzen können
- Zeitliche Orientierung (Abfolgen) und Zeitgefühl (Dauer)
- Räumliche Organisation (Zuordnungen und räumliche Beziehungen)
- Handlungsorganisation
- Flexibilität
- Entscheidungen fällen
- Einschätzungen treffen
- Perspektivübernahme und Einfühlungsvermögen
- Soziale Signale wahrnehmen und interpretieren
- Umgang mit Regelverletzungen und Ausnahmen
Ob ein Schüler oder eine Schülerin erfolgreich lernen kann, hängt weniger davon ab, ob tatsächlich in allen Aspekten eine optimale Lernumgebung und Unterrichtsgestaltung verwirklicht werden kann. Vielmehr ist es die Grundhaltung der Mitmenschen, der Eltern und Lehrkräfte, die entscheidend ist. Erst wenn die Lehrkräfte die „Autismus-Brille“ aufsetzen und versuchen, die Welt mit den Augen des Schülers mit Autismus-Spektrum-Störung zu sehen, werden sie erkennen, welche unsichtbaren Beeinträchtigungen und versteckten alltäglichen Herausforderungen er hat. Nur dann können die Erwachsenen angemessen und flexibel auf diese eingehen und dem Schüler gerecht werden. Und unter der Betrachtung durch die „Autismus-Brille“ werden die individuellen Strategien und Hilfen als sinnvoll und notwendig erkannt, so dass sich die Frage der „Extrawürste“ und ungerechten „Sonderbehandlung“ in der Schule gar nicht mehr stellt.
Unterstützung nach dem TEACCH-Ansatz beginnt also mit dem Blick durch die „Autismus-Brille“. Dies ist völlig unabhängig davon, ob das Kind eine Förder- oder eine Regelschule besucht, welches kognitive Niveau der Schüler hat und ob er nach einem angepassten oder nach dem Regelcurriculum unterrichtet wird.
In der Praxis stellt sich dann natürlich die Frage, wie diese speziellen Formen der Unterstützung aussehen. Hier trifft man auf ein weites Feld: Die Maßnahmen reichen von Rücksicht bei der Wortwahl und Vereinbarungen im Sprachgebrauch (z.B. Verzicht auf Ironie; Einsatz von Signalwörtern; direkte persönliche Ansprache) über Anpassungen in der räumlichen und zeitlichen Struktur (z.B. Sitzordnung; Raumwechsel; Rückzugsmöglichkeit) bis hin zur Individualisierung bei der Gestaltung von Unterrichtsinhalten sowie Lehrmitteln und -methoden.
Manchmal reichen bereits kleine Anpassungen aus und man kann mit geringem Aufwand die Situation eines Schülers mit ASS deutlich verbessern. In meinem Buch, meinen Elternseminaren und Fortbildungen zeige ich deshalb ganz konkrete Hilfestellungen, die den Alltag mit ASS reibungsloser machen und den Stress der Betroffenen und seiner Umwelt wesentlich reduzieren.
Manchmal bedarf es umfangreicherer Veränderungen. Keineswegs ist immer ein hoher Materialeinsatz erforderlich. Oft gilt es Kompromisse zu finden zwischen einer Unterstützung, die notwendig ist, und dem Wunsch des Schülers, diese möglichst unauffällig bereit zu stellen.
Wir erleben oft, dass gerade bei intellektuell stärkeren Schülern mit ASS der besondere Unterstützungsbedarf häufig nicht erkannt und nicht ernst genommen wird. Hier versuchen wir Aufklärungsarbeit zu betreiben und Verständnis zu vermitteln. Denn die Autismus-Spektrum-Störung ist eine unsichtbare Behinderung mit weitreichenden Konsequenzen für die pädagogische Förderung – auch und gerade für Schüler, von denen man aufgrund ihrer intellektuellen Fähigkeiten erwartet, dass sie in der Lage sein sollten, doch „ganz normal“ in die Schule zu gehen!
Stefanie Rietzler: Welchen Einfluss hat eine ASS auf das Lernen allgemein?
Antje Tuckermann: Es sind nicht die kognitiven Anforderungen des Alltags, an denen Personen mit ASS oft scheitern. Den wirklichen Herausforderungen begegnen sie im so genannten „versteckten Curriculum“. Hier geht es zum einen um soziale Kompetenzen und die häufig nicht offensichtlichen Regeln, die das Miteinander bestimmen. Zum anderen wird im Allgemeinen erwartet, dass wir quasi nebenher unsere organisatorischen Fähigkeiten weiterentwickeln, um die zunehmend komplexen Anforderungen in Bezug auf Raumwechsel und Zeitmanagement, Arbeitsplanung und Materialorganisation bewältigen zu können. Wer aber dem versteckten Curriculum nicht folgen kann, der hat kaum Chancen, den Anforderungen des offiziellen Lehrplans zu genügen und in der Schule erfolgreich zu sein.
Aufgrund ihrer spezifischen Beeinträchtigung brauchen Personen mit ASS besondere Unterstützung bei der Bewältigung des versteckten Curriculums. Wichtig ist eine verständnisvolle Umwelt, die um die typischen Schwierigkeiten dieser Personen weiß und Rücksicht darauf nimmt. Möglicherweise bedarf es struktureller oder organisatorischer Anpassungen. Darüber hinaus gilt es natürlich auch, die Kompetenzen der Person zu erweitern, soweit dies im Rahmen ihrer Möglichkeiten steht. Hierfür ist in der Regel eine gezielte Förderung erforderlich, in der explizit erarbeitet wird, was andere implizit lernen.
Stefanie Rietzler: Was versuchen Sie den betroffenen Familien in Ihrer Arbeit mit auf den Weg zu geben?
Antje Tuckermann: In der therapeutischen Arbeit und bei der Beratung verstehen wir uns als Teil des Teams der Bezugspersonen von Klienten mit einer Autismus-Spektrum-Störung beziehungsweise der Rat- und Hilfesuchenden. Wir erkennen, dass die Bezugspersonen wertvolle Erfahrungen und Expertise bezogen auf die jeweils spezifische Situation besitzen, und bringen unsere Fachkompetenz in partnerschaftlicher Zusammenarbeit zum Wohle des Klienten ein. Das methodische Vorgehen basiert auf entwicklungspsychologischen und kognitiv- verhaltenstherapeutischen Konzepten. Ausgehend von den nachgewiesenen Besonderheiten in der Art, wie Menschen mit Autismus Reize aus der Umwelt verarbeiten, werden in unserer pädagogisch- therapeutischen Arbeit vielfältige Formen der Strukturierung eingesetzt, um ein Lernen und Verstehen zu ermöglichen. Struktur hilft Zusammenhänge zu erkennen, Ereignisse vorhersehbar zu machen, Abläufe und Anforderungen zu durchschauen. Dies setzt natürlich voraus, dass der/die Betroffene die Struktur auch erkennt! Um die Struktur zu verdeutlichen und zu vermitteln, nutzt man es aus, dass viele Personen mit Autismus Informationen besser aufnehmen, wenn sie diese sehen und nicht nur hören. Daher werden alle denkbaren Formen visueller Darstellung genutzt.
Die Methode des Structured Teaching, also der Förderung des Verstehens und der Selbstständigkeit durch strukturierende Hilfen, ist unabhängig vom geistigen und sprachlichen Niveau der Betroffenen, da die Hilfen individuell gestaltet und an die jeweiligen Fähigkeiten und Bedürfnisse der einzelnen Personen angepasst werden. Sie hat sich in vielen verschiedenen Situationen des Lebens und Lernens bewährt (z.B. Kindergarten, Schule, Familie, Wohngruppe, Arbeitsplatz).
Neben dem Bemühen, uns und unsere Welt dem Menschen mit Autismus gegenüber verständlicher zu machen, wird selbstverständlich auch großer Wert darauf gelegt, dem Betroffenen Wege und Möglichkeiten zu eröffnen, sich mitzuteilen. Die Suche nach individuellen Wegen zu effektiver Kommunikation stellt daher einen Kernpunkt im TEACCH Konzept dar.
Aktuell: Seminare Antje Tuckermann
Wir freuen uns sehr, dass wir die ASS-Expertin Antje Tuckermann für jeweils ein Elternseminar und eine Tagesfortbildung gewinnen konnten:
Für Eltern: "Alltagshilfen für Kinder und Jugendliche mit Asperger / Autismus-Spektrum-Störungen“
Für Fachpersonen: "Unterstützungsmöglichkeiten für Schüler/innen mit Autismus-Spektrum-Störungen im Regelunterricht"
Für Eltern und Fachpersonen unser neues Web-Seminar: "Kinder und Jugendliche mit Asperger / Autismus-Spektrum-Störungen fördern: Wie stärken wir ihr sozioemotionales Lernen und ihre Kommunikation?"