Abklärung / Diagnostik der ADS / ADHS
In den letzten Jahren hat das Thema ADHS viel Beachtung erfahren. Beinahe jeder kennt ein Kind aus dem Kindergarten, einen Mitschüler des Sohnes oder eine Freundin der Tochter, die "ADHS hat" oder deren Eltern/Lehrpersonen dies vermuten. Auch die Medien schlachten das Thema immer wieder aus. Doch wie wird eine ADHS eigentlich festgestellt?
Wer macht ADHS-Abklärungen?
Häufig ist der Kinderarzt die erste Anlaufstelle für Eltern, die sich wegen Aufmerksamkeits- und Konzentrationsproblemen ihrer Kinder sorgen machen. Der Kinderarzt wird das Kind vornehmlich körperlich untersuchen, den Entwicklungsstand einschätzen und die Motorik prüfen. Dies reicht jedoch für eine umfassende Abklärung nicht aus. Ein meist umfangreicheres und detaillierteres Bild ergibt sich in einer ganzheitlichen Abklärung vom Schulpsychologen oder Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten/ -psychiater, die für die Diagnostik von AD(H)S geschult sind.
Wie läuft eine professionelle Abklärung ab?
Eine professionelle Abklärung durchläuft mehrere Schritte, wobei sich der Ablauf von Diagnostiker/in zu Diagnostiker/in unterscheiden kann.
Eine Fachärztin erhebt körperliche Krankheiten und die Funktionsfähigkeit des Gehirns
Bevor eine (psychologische) ADHS-Abklärung erfolgen kann, wird das Kind in der Regel zum Kinderarzt und Neurologen überwiesen. Dies ist wichtig, um ausschließen zu können, dass eine körperliche Ursache für die Verhaltensauffälligkeiten verantwortlich ist. Denn manchmal sind Konzentrationsschwierigkeiten und / oder körperliche Unruhe allein auf körperliche Ursachen zurückzuführen, z.B. auf eine Seh- oder Höreinschränkung, auf Mangelerscheinungen oder eine Schilddrüsendysfunktion. Werden diese körperlichen Einschränkungen behandelt, verschwindet auch die Symptomatik - es wird keine ADHS diagnostiziert. In diesem Zusammenhang werden auch Hirnströme mittels EEG gemessen, um sicher zu gehen, dass die Aufmerksamkeits- oder Konzentrationsprobleme nicht mit einer hirnorganischen Veränderung/oder Abnormalität zusammenhängen.
Die Fachperson führt ein Erstgespräch mit Eltern und Kind
Wenn eine körperliche Problematik im Zusammenhang mit ADHS-typischen Verhaltensweisen ausgeschlossen ist, werden die Eltern mit ihrem Kind meist bei der Schulpsychologin oder Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin vorstellig. Diese wird anfangs die Vorgeschichte des Kindes erfragen. Hier kommen Schwangerschaftsumstände, Meilensteile der kindlichen Entwicklung (Krabbeln, Laufen, Sauberkeitserziehung), aber auch bisherige Krankheiten und Allergien des Kindes und der Familie, oder psychische Auffälligkeiten zur Sprache. Die Fachperson wird sich im Gespräch auch ein erstes Bild über die Familien- und Betreuungssituation sowie die über die Beziehungen des Kindes machen.
In einem zweiten Schritt werden mittels Fragebogen die Einschätzung des Umfeldes über das betreffende Kind erhoben. Hier geht es um die Frage, wie unterschiedliche Bezugspersonen des Kindes, z.B. Eltern und Lehrpersonen oder Sporttrainer die Verhaltensauffälligkeiten des Kindes erleben. Hierbei kommen oftmals Checklisten zum Einsatz, beispielsweise die „Child Behavior Checklist“ (CBCL) oder die Diagnosecheckliste ADHS (DCL). Ergänzend dazu werden oft Fragebögen ausgegeben, die die familiäre Situation, das Verhältnis zu Eltern und Geschwistern und die allgemeinen Rahmenbedingungen der Erziehung abbilden sollen.
Ist das Kind beim Erstgespräch anwesend, so kann die Fachperson sich selbst einen Eindruck vom Verhalten des Kindes machen. Sie wird das Kind nach seiner Einschätzung fragen, mit ihm spielen, etwas malen oder kleine Aufgaben lösen und dabei sein Verhalten beobachten. Daraus entsteht eine erste grobe Einschätzung.
Das Kind durchläuft eine testdiagnostische Abklärung
Eine wichtige Säule, die die Diagnose ADHS trägt, ist die sogenannte Testdiagnostik. Hier wird unter anderem die Leistungsfähigkeit des Kindes in verschiedenen Bereichen mittels standardisierter Testverfahren überprüft.
Die meisten Fachpersonen beginnen mit einem Intelligenztest (z.B. Hamburg Wechsler Intelligenztest für Kinder (HAWIK / WISC-IV) oder Kaufman Assessment Battery for Children (K-ABC II). Kinder mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/(Hyperaktivitäts-)Störung bleiben aufgrund ihrer Verhaltensprobleme oft weit hinter ihrem eigentlichen Potenzial zurück. Andererseits können sich hinter Verhaltensweisen, die nach außen hin auf eine ADHS hindeuten, auch eine Hoch- oder Minderbegabung bzw. eine Über- oder Unterforderung in der Schule verbergen. Nicht zuletzt deshalb ist eine Intelligenzabklärung ein wichtiger Bestandteil der ADHS-Diagnostik. Für standardisierte Intelligenztest existieren Altersnormen, sodass das individuelle Testergebnis des Kindes mit dem Normwert für die betreffende Altersstufe verglichen werden kann.
Um die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit des Kindes über den Intelligenztest hinaus zu ermitteln, werden häufig Aufmerksamkeitstests wie der DAT (Dortmunder Aufmerksamkeitstest) oder der d2` (ebenfalls ein Konzentrationstest) angewendet, bei dem die Kinder Bilder auf Unregelmäßigkeiten hin vergleichen und gleiche Bildpaare finden müssen oder unter Zeitdruck vorgegebene Symbole durchstreichen oder ergänzen müssen.
Die visuelle und auditive Merkfähigkeit des Kindes wird über verschiedene Testverfahren (z.B. dem Bentontest, Mottiertest) erhoben. Bei diesem muss sich das Kind ein vorher gezeigtes geometrisches Muster merken und anschließend aus dem Gedächtnis nachzeichnen oder sich bestimmte mündlich vorgegebene Inhalte einprägen.
Während der gesamten Testdiagnostik wird die Diagnostikerin das kindliche Verhalten beobachten. Sie wird sich ein Bild über die Konzentrationsfähigkeit machen, wird sehen, wie leicht es sich ablenken lässt, wie zügig es arbeitet und wie viel Widerstand es zeigt. Auch wird häufig ein Augenmerk darauf gelegt, wie gut das Kind Frustrationen aushalten kann und wieviel Ausdauer es bei schwierigen Aufgaben zeigt (=Frustrationstoleranz). Zudem wird die Diagnostikerin eine Einschätzung über das Aktivitätsniveau treffen.
Darüber hinaus wird der Entwicklungsstand des Kindes erhoben. Dies kann beispielsweise über die Überprüfung von Körpergröße, Sprache, Kontaktverhalten, Reaktion bei der Trennung von den Eltern, Körperkoordinationsfähigkeit und Auge-Hand-Koordination und räumlicher Orientierungsfähigkeit geschehen.
Ein wichtiger Teil ist außerdem die emotionale Diagnostik. Hier geht es um Fragen wie „Wie schätzt sich das Kind selbst ein? Wie steht es um sein Selbstwertgefühl? Wie ist seine Grundstimmung? Welche Sorgen beschäftigen es? Wo ist der Platz des Kindes innerhalb der Familie? Welche Haltung hat es zur Schule? Wie ist die Beziehung zu den Lehpersonen? Wie zufrieden ist das Kind mit seinen sozialen Kontakten?“. Die emotionale Diagnostik ist wichtig, um herauszufiltern, ob die Konzentrationsprobleme und körperliche Unruhe beispielsweise mit emotionalen Belastungen oder Gefühlsverstimmungen des Kindes zusammenhängen. Viele Kinder entwickelt kurzfristig ADHS-ähnliche Symptome, wenn sich ihre Lebenssituation stark verändert, etwa nach einem Umzug, der Trennung der Eltern oder dem Tod einer nahestehenden Person. In manchen Fällen zeigt sich der ADHS-Verdacht als unbegründet, vielmehr verbirgt sich hinter den vermeintlichen Symptomen eine Belastungsreaktion auf Mobbing in der Schule oder die Ausgrenzung durch Gleichaltrige.
Die Fachperson erstellt einen abschließenden Befund und hält diesen in einem Abklärungsbericht fest
Alle Komponenten, d.h. die Vorgeschichte, die Verhaltensbeobachtung des Kindes, die Einschätzung des kindlichen Verhaltens durch Eltern und Lehrer/innen und die Ergebnisse der Testdiagnostik fließen in den abschließenden Befund mit ein. Wie Ihnen vielleicht aufgefallen ist, enthält ein großer Teil der ADHS-Abklärung eine stark subjektive Komponente. Je nachdem wie Sie selbst und die Lehrpersonen das kindliche Verhalten einschätzen und die Fragebögen ausfüllen und wie die Fachperson das Verhalten des Kindes beurteilt, wird sich der Befund verändern. Nicht unerheblich für die Diagnosestellung ist auch, wie das Kind in der Testsituation gerade reagiert und welche Verfahren genau eingesetzt werden. Die Verhaltensbeobachtung durch die Diagnostiker/in spiegelt den Eindruck wider, den sie innerhalb von einigen Stunden von Ihrem Kind gewonnen hat. Sie selbst kennen Ihr Kind am Besten und wissen, dass das Verhalten Ihres Kindes auch von der Tagesform abhängen kann oder dass sich ein Kind in einer neuen Umgebung (wie einer psychotherapeutischen Praxis) manchmal ganz anders verhalten kann als gewöhnlich.
Es wird somit nochmals klarer, dass die ADHS-Diagnostik kein „Bluttest“ ist, aus dem man klare Schlüsse (vorhanden/nicht vorhanden) ableiten kann. Vielmehr ist der abschließende fachärztliche Befund ein Mosaik aus Einzeleinschätzungen, die viele subjektive Komponenten mit einschließen. Die Testergebnisse der standardisierten Testverfahren allein reichen für eine Diagnose nicht aus. Es ist also das „Gesamtpaket“, welches zur Diagnose ADS / ADHS führt oder nicht.
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Die Autoren Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler leiten gemeinsam die Akademie für Lerncoaching in Zürich.
Die beiden verbindet eine große Begeisterung und Leidenschaft für das Schreiben von Büchern.
Autorin dieses Artikels: Stefanie Rietzler
Stefanie Rietzler ist Psychologin und leitet die Akademie für Lerncoaching gemeinsam mit ihrem Kollegen Fabian Grolimund.
Als Expertin für das Thema ADHS hält sie regelmässig Seminare für Eltern und Weiterbildungen für Fachpersonen.