Aufmerksamkeitsdefizit / Hyperaktivität

Erfahrungsbericht: „Der Druck und das Tempo brachten unsere Tochter an den Anschlag“

Patrick (43) und Sara (43) erzählen von ihrer Tochter Noelia (10), die schon früh durch ihre Verträumtheit auffiel.

Wann habt ihr zum ersten Mal bemerkt, dass eure Tochter etwas «anders tickt» als andere Kinder?

Anzeichen gab es eigentlich schon als Baby. Im Bauch wirkte Noelia fast übernatürlich ruhig und auch als Baby brauchte sie viel Ruhe, wollte nicht ins Tragtuch, schlief am besten für sich ein.

Schon von klein auf konnte sich Noelia ganz in etwas vertiefen. So sehr, dass man immer aufpassen musste, dass sie sich nicht verirrte, wenn man mit ihr unterwegs war. Sie beobachtete irgendetwas, ging dem nach und plötzlich musste man sie suchen. Wir haben sie in der Jungschi auch nicht mit auf Anlässe in die Stadt gelassen, weil wir immer Angst hatten, dass sie sich vergisst und verloren geht.

Wie habt ihr darauf reagiert?

Zuerst ließen wir das Gehör testen, weil Noelia manchmal so in ihrer eigenen Welt war, dass wir dachten, sie hört uns vielleicht nicht. Damit war aber alles in Ordnung. Heute sind wir oft erstaunt, wieviel sie im Alltag dennoch aufschnappt. Man glaubt, sie würde nicht zuhören, weil sie etwas für sich macht, während wir reden – und zwei Wochen später stellt sie plötzlich eine Frage dazu.

Wie habt ihr den Eintritt in den Kindergarten erlebt?

In den Kindergarten ging Noelia gerne, da konnte sie noch spielen. Aber wir erhielten vom Kindergarten dann bald die Rückmeldung, dass Noelia manchmal ungebremst in ein Kind reinrannte und sich dann nicht entschuldigen konnte, weil sie meinte, das Kind sei ja vorhin gar nicht dagewesen.

...und in der Schule?

In der Schule wurde es schwierig. Große Gruppen sind für unsere Tochter sehr ermüdend. Die vollen Klassen, die vielen Wechsel und der Ansatz der Schule, jedes Kind sein eigenes Programm machen zu lassen und sie auf mehrere Zimmer zu verteilen, setzten Noelia zu. Es gab keine festen Pultplätze, die Kinder mussten jeden Tag neu entscheiden, wo sie sitzen. Bis unsere Tochter erst einmal wusste, wo sie sitzen sollte, und ihre Sachen zusammenhatte, stand schon wieder eine andere Aufgabe an. Dadurch entstand bei ihr der große Frust, immer hintendran zu sein.

Was habt ihr zuhause unternommen, um Noelias Frust und ihre Ermüdung aufzufangen?

Für uns war schnell klar: Wir dürfen sie beispielsweise nie an den Mittagstisch schicken und danach zum Nachmittagsunterricht, auch wenn das für uns Eltern mehr Organisation erfordert. Wir wissen einfach: Das würde sie kaputt machen. Sie braucht ihre Ruhe und ihren Raum.

Ihr achtet zuhause bewusst auf Ruheinseln als Gegengewicht zum hektischen Schulalltag?

Ja, und Noelia wünscht sich das auch selbst. Kürzlich meinte sie zum Beispiel, sie wolle unbedingt wieder einmal diesen Ausflug zu einer alten Burgruine machen und dort mit ihrem Playmobil spielen. Auf die Frage „Warum?“, antwortete sie: „Da war es sooo ruhig.“

Allgemein kann sich unsere Tochter stundenlang selbst beschäftigen: Lesen, basteln, turnen, mit Playmobil im ganzen Haus eine Welt aufstellen. Sie braucht das auch. Nach der Schule kommt sie oft heim und geht ins Zimmer. Sie sagt: „Es ist mir egal, ob ich heute noch raus kann. Ich muss mich jetzt zuerst erholen.“ Uns ist es wichtig, dass sie das so gut spürt und uns auch sagen kann. Von ihrem Zimmer aus kann Noelia beobachten, wie die Kinder in der Nachbarschaft spielen. Wenn sie sich erholt hat und weiß, was sie draußen erwartet, dann zieht sie ihre Jacke an und stößt dazu.

Das ist oft so: Noelia beobachtet zuerst wie ein Adler. Und irgendwann: Zack, weiß sie ganz genau, was sie will und lässt sich nicht mehr davon abbringen.

Wie sind die Lehrer/innen bisher mit Noelias verträumter Art umgegangen?

22 Diktat kleinDie Lehrpersonen in der Unterstufe sagten klar: Noelia muss lernen, sich zu konzentrieren und ihre Sachen pünktlich abzugeben – und wir sollten zuhause nicht helfen. Das hat uns sehr beelendet und hilflos gemacht. Zum Glück hat uns die Kinderärztin den Rücken gestärkt, indem sie sagte: „Ihr seid eine Familie und könnt einander unterstützen. Wenn es einen Schubs braucht, damit Noelia die Turnsachen dabei hat, ist das doch kein Problem.“ Aber der Druck und das Tempo brachten Noelia an den Anschlag. Ende der zweiten Klasse wollte sie nicht mehr in die Schule gehen und wirkte fast depressiv.

Es tut weh, das als Eltern mit anzusehen...

Ja, deshalb wollten wir Noelia mit einigen Jokertagen etwas Luft verschaffen. Wir mussten um diese Tage kämpfen, da wir in diesem Jahr eine längere Reise machten. Da wir die Kinder in dieser Zeit fernunterrichteten, bestanden wir auf die Halbtage. Die Lehrperson war dagegen, weil Noelia dann Stoff verpasst. Schließlich hatten wir die Zusage für die Halbtage, aber Noelia verzichtete darauf. Wir denken, dass sie die Haltung der Lehrer spürte. Wenig später rief uns die Lehrperson an und sagte, Noelia sei in der Schule frech gewesen und ausgerastet, als sie zum wiederholten Mal die Hausaufgaben vergessen hatte. Wir antworteten: „Noelia rastet aus, wenn sie unter immensem Druck steht, sich ungerecht behandelt fühlt und nicht mehr weiß, was ihre Aufgabe ist. Könnten Sie Noelia dabei unterstützen, an die Hausaufgaben zu denken?“ Aber die Lehrperson blieb dabei: Ende der zweiten Klasse müsse das Kind einfach eine Agenda führen können, Punkt, und sie als Lehrperson müsse den vorgegebenen Lehrplan einhalten und die Ziele müssen erreicht werden. Wir Eltern dachten: worum geht es jetzt hier? Dass die Lehrer ihr Programm durchackern oder auch um Pädagogik, das Kind zu fördern, zu spüren wie es einem Kind geht, wie es die gesteckten Ziele erreichen könnte?

 

Es kamen also viele Forderungen von der Schule, aber wenig Unterstützung. Was hat eurer Familie in dieser Zeit geholfen?

Was uns Eltern half und immer noch hilft, dem Druck aus der Schule nicht nachzugeben, ist die Haltung: ein Kind wird nie gute Leistungen erbringen, wenn es ihm nicht wohl ist. Erst, wenn das Umfeld stimmt, kann man weiterschauen. Wir hatten dann Glück, dass Noelia in ein kleineres, ländlicheres öffentliches Schulhaus auf dem Belpberg mit 35 Schüler/innen und altersdurchmischten Klassen wechseln konnte. Sie meinte dazu: „Weißt du Mama, wenn ich zum Fenster rausschau, sehe ich einfach grün.“

Das Lehrerteam geht pragmatischer vor und sagt beispielsweise: „Ja, Noelia, ist eben etwas langsamer. Wenn es nicht mehr geht, soll sie kurz raus, eine Runde springen gehen.“ Das wäre zuvor undenkbar gewesen. Auch betont der Lehrer ihre Begabungen im musischen und sportlichen Bereich.

In diesem Zusammenhang hat es mir, Patrik, enorm geholfen, Noelias aktuellen Lehrer als Menschen kennenzulernen. Ich durfte ins Skilager mit der dritten bis sechsten Klasse. Ich merkte: Der spult nicht sein Programm ab, sondern der will den Kindern etwas fürs Leben mitgeben und das gab mir Vertrauen in ihn als Person. Es hat es mir leichter gemacht, an den Elternabenden ehrlich zu sein. Ich möchte nicht die Lehrpersonen angreifen, was sie alles falsch machen. Mir ist bewusst, dass die Lehrpersonen dieses Schulsystem vertreten müssen, ich denke, dass sie es ja auch hinterfragen. Dabei helfen ihnen auch Rückmeldungen dazu, wie es den Kindern mit der Schule geht.

Mir, Sara, hilft mein Alter dabei, mich abzugrenzen. Unsere älteste Tochter hatte ähnliche Probleme in der Schule, aber da traute ich mich nie, etwas zu sagen und fühlte mich im Gespräch mit Lehrkräften immer so unterlegen! Im Nachhinein bereue ich das. Jetzt begegne ich den Lehrer/innen mehr auf Augenhöhe und mache mir klar: Ich weiß auch etwas! Wir sagen es, wenn wir merken, dass es Noelia wieder schlechter geht in der Schule und sie zu erschöpft ist. Wir müssen immer wieder verdeutlichen, dass sie ihre Zeit braucht, auch wenn das der Stundenplan nicht vorsieht.

Es hilft auch, wenn man ein älteres Kind hat und weiß: ich werde ihr garantiert mit 16 nicht mehr morgens in die Socken helfen. Nur weil ich das heute mache, heißt das nicht, dass sie das nie können wird. Das entspannt. Zu oft haben wir Eltern feste Sätze in unseren Köpfen, zum Beispiel: „Die wird nie selbständig, wenn du ihr alles abnimmst.“ Dann ist es wichtig, sich bewusst zu machen: Unsere Tochter hat diese Kompetenz, beim Turnen zieht sie sich die Socken ja auch selbst an. Aber wenn es heute morgen nicht geht und es ihr diesen kleinen Kick gibt, um gut in den Tag zu starten, dann helfe ich ihr gerne.

Während der Coronazeit hatte Noelia wie viele andere Kinder auch Fernunterricht. Wie war das für euch?

Während des Heimunterrichts habe ich, Patrick, unsere Tochter meist beim Lernen begleitet. Die erste Zeit war eine Katastrophe! Wir brauchten jeweils fast zwei Stunden nach Erhalt der Wochenauftäge, um die Aufträge auszudrucken und zu strukturieren, zu verstehen – erst dann konnte Noelia wirklich beginnen. Anfangs dachte ich: „Das ist so schlimm! Wenn Noelia einfach drei Stunden konzentriert arbeiten würde, könnte sie auch alles erledigen.“ Ich begann auch, mich selbst zu hinterfragen: „Vielleicht mache ich es als Vater nicht gut, vielleicht reicht meine Unterstützung nicht aus?“ Zum Glück meldete mir meine Frau zurück, dass ich zu gestresst bin und wir etwas unternehmen müssen. Also habe ich mit dem Lehrer gesprochen: „Es geht nicht mehr! Wir machen das Kind kaputt mit diesem Druck!“ Der Lehrer hat dies zum Glück ernstgenommen und das Pensum reduziert.

Was mich sehr bewegt hat, war, als Noelia gesagt hat: „Das Schönste an der Zeit mit dem Lernen zu Hause ist, dass ich die Aufträge immer fertig machen konnte.“ Auch wenn dann nicht alle erledigt waren, konnten die, die sie in Angriff nahm, fertiggestellt werden.

Ihr sprecht die offene Kommunikation an, zwischen euch als Paar, mit der Schule – das scheint ein Schlüssel zu sein...

Ja, das merken wir auch im Umgang mit unserer Tochter. Gestern sagte Noelia zum Beispiel: wenn wir sie morgens in die Schule schicken und Druck machen, weil sie so spät dran ist, dann kann sie gar nichts mehr! Dann wird sie noch langsamer. Als wir dann heute alle verschlafen hatten, sagten wir ihr zum ersten Mal nicht, dass wir zu spät dran sind. Wir haben sie einfach begleitet und geführt. Plötzlich haben die 20 Minuten gereicht. Für alles! Und sie war glücklich. Das ist mir als Vater sehr eingefahren. Hätte sie mir tags zuvor nicht so genau und ehrlich gesagt, wie das für sie ist, hätte ich sie garantiert wieder zur Eile angehalten.

Ich glaube, es ist wichtig, dass ich mir Zeit für meine Tochter nehme, wenn ich spüre, dass etwas im Argen liegt. Sie kann sehr genau sagen: „Papi, du bist dann so und so.“ Sie beobachtet mich extrem. Das zeigt mir: Sie ist nicht einfach eine Drittklässlerin, sondern sie ist jemand, eine eigene Persönlichkeit. Nicht immer, wenn die Kinder schreien, sind sie falsch, sondern dann ist da auch ein Bedürfnis oder eine Not. Das war eine wichtige Erkenntnis für mich.

Was tut euch sonst als Familie gut?

Einerseits zu erkennen, dass es nicht hilfreich ist, mit anderen Eltern zu sprechen. Die meisten sehen nur die Perspektive: wenn das Kind nicht gut ist in der Schule, wird’s es später sowieso schlecht haben, dann hat es keine Zukunft, kann keinen Beruf lernen. Wir haben aber durch die ältere Tochter und uns selber erfahren, dass es verschiedene Wege zum Ziel gibt. Es bringt auch nichts, jetzt schon Dinge zu Noelia zu sagen wie: „Wenn du später mal Ärztin werden willst, dann musst du dir jetzt aber mehr Mühe geben!“ Wir glauben, dass man später immer noch schauen kann, wo Noelia steht und was es dann braucht für ihren Berufswunsch. Schließlich entwickelt sie sich auch noch. Aber wenn wir als Eltern jetzt schon kommen und sie mit negativen Zukunftsszenarien unter Druck setzen, dann... ja, dann tritt das vielleicht auch ein, was man befürchtet.

Für uns als Familie war es auch wichtig, uns nicht mehr soviel reinreden zu lassen und uns stattdessen zu fragen: Wer sind wir als Familie? Welche Kontakte bereichern uns? Wie wollen wir leben? Was tut uns gut? Welche Persönlichkeiten sind in dieser Familie vertreten und was braucht jeder einzelne von uns, damit es ihm gut geht?

Wie habt ihr das im Alltag konkret umgesetzt?

Wir haben da ein Stück weit „heilige Kühe“ geopfert. Beispielsweise sitzen wir sitzen selten am Wochenende als Familie zusammen am Frühstückstisch, weil wir gemerkt haben, dass wir bald nicht mehr zufrieden sind. Mama muss alleine essen können, dann hat sie danach den Nerv für die Familie, solche Dinge. Noelia hilft es auch, wenn sie sieht, dass ihre Mama ähnlich ist und auch viel Ruhe und Pausen braucht. Dann kichert sie und man merkt die Erlösung: „Hihi, ich bin nicht die Einzige, die so tickt in dieser Familie.“ Wir mussten lernen, auf uns acht zu geben und zum Beispiel zu verstehen: Wenn wir in ein großes Einkaufszentrum oder zu einem Fest gehen, dann kostet uns das etwas als Familie. Auch die schönen Dinge. Danach müssen wir einen freien Tag einschalten, an dem wir uns erholen können, keine Termine haben und niemanden treffen.

Dann dreht sich vieles bei euch darum, den Terminkalender zu entschlacken und den Alltag bewusst nach den unterschiedlichen Bedürfnissen zu gestalten?

Wir wollen ja als Familie keine Punkteliste abarbeiten, sondern wir wollen zusammen leben! Wir möchten Kinder, die als Erwachsene wissen, dass es nicht nur einen Weg zu einem glücklichen Leben gibt und sie nicht alles brauchen.

Was möchtet ihr eurer Tochter sonst noch für die Zukunft mitgeben?

Ich, Patrick, glaube, Noelia muss auch manchmal erleben, dass sie mal an ihre Grenze kommt. Wir können sie nicht immer schützen. Wir können nicht immer sagen, das wird ihr zu viel. Ab und zu ist es auch wichtig, dass sie das spürt. Aber wir glauben, unser Beitrag als Eltern sollte darin bestehen, dass Noelia aufwachsen darf und weiß: Sie ist wertvoll, sie ist geliebt, gut wie sie ist und hat Stärken und Schwächen. Dann wird sie auch für andere Menschen ein Gewinn sein, daran glauben wir einfach.

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