Geschwister von ADHS-Kindern: wie sie fühlen, was sie brauchen (mit Video)
„In unserem Alltag dreht sich fast alles um unser ADHS-Kind. Manchmal habe ich Angst, dass das Geschwister auf der Strecke bleibt. Was soll ich tun?“ diese Frage taucht immer wieder auf, wenn wir Eltern von hyperaktiv-impulsiven Kindern arbeiten. In diesem Artikel möchte ich gemeinsam mit Ihnen Antworten finden.
Im folgenden Video erkläre ich sämtliche Aspekte, die weiter unten schriftlich beschrieben sind:
Wenn der Erziehungsalltag ermüdet
Mütter und Väter von ADHS-betroffenen Kindern und Jugendlichen sehen sich im Alltag mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert. Viele von ihnen haben das Gefühl, dass sie sich nie wirklich entspannen können. Andauernd müssen sie ein Auge auf ihren Wirbelwind haben, damit er keine Dummheiten begeht, das Kind strukturieren, weil es vergesslich und chaotisch ist, als Schlichter auftreten, weil es bei Geschwistern, Nachbarskindern oder in der Schule aneckt und Regeln unzählige Male aufs Neue ausdiskutieren. Alltagsrituale, die bei anderen Familien oft reibungsloser verlaufen, beispielsweise das morgendliche Aufstehen und Zurechtmachen, die Hausaufgaben, gemeinsame Familienessen oder das Zubettgehen, erfordernd intensive Begleitung und führen nicht selten zu handfesten Konflikten. Der Alltag ermüdet.
Viele Eltern beschleicht das Gefühl, „alles für das Kind zu tun, aber es reicht nie“. So benötigen die Kinder beispielsweise viel Unterstützung beim Lernen und den Hausaufgaben, können diese Hilfe jedoch oft nicht annehmen. Sie verstricken die Eltern in Diskussionen und werfen ihnen alles Mögliche an den Kopf, wenn sie sich überfordert fühlen. Die Lernbegleitung nimmt viel Zeit in Anspruch.
Auch im sozialen Bereich treten Schwierigkeiten auf. Viele Eltern berichten, dass sich ihre hyperaktiv-impulsiven Kinder rasch gekränkt und ungerecht behandelt fühlen und im Strudel ihrer Emotionen allzu schnell die Fassung verlieren. Es kommt nicht selten zu Beleidigungen und körperlichen Übergriffen, die dem Kind hinterher leid tun. Häufig vergleichen sich diese Kinder mit ihren Geschwistern, zeigen ein ausgeprägtes Konkurrenzdenken und fühlen sich rasch als „schwarzes Schaf der Familie“, wenn die Eltern sich den Geschwisterkindern zuwenden.
Aus dieser Dynamik heraus beschleicht viele Familien die Sorge, dass sie andauernd um ihr ADHS-betroffenes Kind „herumsurren“ müssen und das Geschwisterkind nicht die nötige Aufmerksamkeit erhält: „Wir können uns auch nicht zweiteilen“, stellen Mütter und Väter nachdenklich fest.
„Hilfe, mein Geschwister hat ADHS“
Wie ist es, mit einer ADHS-betroffenen Schwester oder einem Bruder aufzuwachsen? Viele Kinder und Jugendlichen berichten von sehr ähnlichen Erfahrungen. Diese können uns dabei helfen, uns besser in sie einzufühlen.
Viele Geschwisterkinder erzählen, dass sie sich im Alltag oft frustriert und irritiert fühlen. Besonders belasten sind die vielen Streitigkeiten, die sich im Haushalt abspielen. „Ständig ist irgendetwas, irgendein Feuer gibt es mit meiner Schwester immer zu löschen. Man kommt nie richtig zur Ruhe.“ Meinte eine 13Jährige über das Zusammenleben mit ihrer ADHS-betroffenen Schwester. Wie diese Jugendliche sehnen sich viele Geschwisterkinder nach einem harmonischeren Familienleben und mehr Momenten, in denen sich die ganze Familie entspannen kann.
Als belastend wird auch das andauernde „Auf-der-Hut-sein-Müssen“ erlebt. Aufgrund der Stimmungsschwankungen und Impulsivität ADHS-betroffener Kinder reichen oft Kleinigkeiten, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Geschwisterchen sind oftmals in Daueranspannung: „wann rastet sie / er wieder aus? Was wirft mir meine Schwester/ mein Bruder das nächste Mal wieder an den Kopf?“
Nicht selten beschleicht Geschwisterkinder auch das Gefühl, unsichtbar zu sein, da das ADHS-betroffene Kind so viel Aufmerksamkeit auf sich zieht und soviele Energien der Eltern bindet. Dies führt oft zu einer ambivalenten Haltung: auf der einen Seite stehen die Eifersucht und der Wunsch, selbst aus dem Hintergrund zu treten und mehr Zeit und Zuwendung der Eltern zu erhalten. Auf der anderen Seite plagen Geschwisterkinder nicht selten Schuldgefühle, weil sie -das „gesunde“ Kind- es im Leben deutlich einfacher haben und dafür „eigentlich dankbar sein müssten“.
Typischerweise fallen ADHS-betroffene Kinder und Jugendliche auch außerhalb der Familie auf. Sie wirbeln in Situationen herum, in denen Stillsitzen erwartet wird, machen lautstark auf sich aufmerksam, platzen in Spiele hinein, provozieren in der Gruppe und wirken auf Außenstehende oft dominant, rechthaberisch und großspurig. Aufgrund ihrer niedrigen Frustrationstoleranz kommt es nicht selten zu Wutausbrüchen, wenn sie ein Spiel verlieren oder nicht in die gewünschte Mannschaft gewählt werden. Für Geschwisterkinder bringt diese Dynamik eine erneute Ambivalenz mit sich: auf der einen Seite fühlen sie sich zur Loyalität verpflichtet und spüren den Druck, das Geschwister nach außen hin verteidigen zu müssen, auf der anderen Seite empfinden sie dessen Verhalten ebenfalls als unangemessen, ärgern sich darüber und möchten es sich mit der Umgebung nicht verscherzen.
Häufig stellen wir in der Arbeit mit Familien zudem fest, dass Geschwisterkinder überangepasst wirken. Diese Mädchen und Jungen scheinen sich dazu verpflichtet zu fühlen, die Rolle des „guten“ bzw. „braven“ Kindes einzunehmen. Da sie erleben, wie herausfordernd die Erziehung des ADHS-betroffenen Kindes für die Eltern und Lehrer/innen ist, möchten sie diesen keinen zusätzlichen Kummer bereiten. Teilweise eilt ADHS-betroffenen Kinder in Schulen und Sportvereinen auch ein gewisser „Ruf“ voraus, was bei den Geschwistern den Druck erhöhen kann, der Außenwelt durch tadelloses Verhalten und Leistung zu beweisen, dass sie anders sind.
5 Wege, um Geschwisterkinder ADHS-Betroffener zu stärken
Viele Familien haben Wege gefunden, um die oben beschriebenen Schwierigkeiten abzumildern. Die bewährtesten Vorgehensweisen möchten wir Ihnen im Folgenden vorstellen:
Vereinbaren Sie eine Spielzeit pro Woche
Für viele Geschwisterkinder ist es eine große Entlastung, wenn sich jeder Elternteil einmal pro Woche für eine Stunde ganz bewusst Zeit für sie alleine nimmt. Am besten nutzt man dafür eine Phase, in der das andere Kind in der Schule, beim Sport oder im Musikunterricht ist. Das Geschwisterchen darf jeweils auswählen, was es in dieser Zeit mit Mutter oder Vater spielen oder unternehmen möchte. Oft kommen dabei unbeschwerte Momente und wichtige Gespräche zustande. Eltern können dem nichtbetroffenen Kind dadurch auch vermitteln, dass sie gerne mit ihm zusammen sind und es sich ihre Aufmerksamkeit nicht verdienen muss, indem es besonders brav ist oder mit guten Leistungen glänzt.
Suchen Sie nach Auszeiten
Wie oben beschrieben kann der Alltag für Geschwisterkinder sehr intensiv sein. Es lohnt sich daher, bewusst nach Erholungsinseln Ausschau zu halten. Wo kann es seinen Hobbies und Stärken nachgehen? Gibt es Verwandte, die mit ihm von Zeit zu Zeit einen Ausflug machen könnten? Kann das Kind in den Ferien einige Tage bei einer Freundin übernachten, in ein Feriencamp verreisen oder für ein Wochenende mit einem Elternteil wegfahren?
Wichtig wäre es auch, dass das Geschwisterkind einen Ort hat, an den es sich zurückziehen kann, wenn es ihm zuviel wird. Gerade wenn das ADHS-betroffene Kind zu Aggressionen und Wutausbrüchen neigt, benötigt das Geschwisterkind unbedingt einen Rückzugsort (mit Schlüssel), an dem es sich auch dann in Sicherheit bringen kann, wenn die Eltern gerade nicht zu Hause sind.
Verzichten Sie auf Vergleiche
Hyperaktiv-impulsive Kinder scheinen getrieben zu sein, sich andauernd mit anderen zu messen. Sie lieben den Wettbewerb – solange sie gewinnen. Kommen sie mit einer schlechten Note nach Hause oder werten sie sich selbst ab, versuchen Eltern sie meist mit Sätzen der folgenden Art aufzubauen: „Das ist doch nicht so schlimm… deinem Bruder liegen die Sprachen, du bist dafür gut im Sport.“ Gerade diese Vergleiche zwischen den Geschwistern heizen die Eifersucht weiter an. Besser wäre es, der Leistungsebene weniger Beachtung zu schenken und stattdessen den Fokus auf positive Beziehungsmomente zu richten: Wann kommen die Geschwister gut miteinander aus? Wann spielen sie einträchtig? Wo sind sie sich einig? Wann lachen sie miteinander? Wo unterstützen sie sich gegenseitig? Schärfen Sie Ihren Blick für diese kleinen Begebenheiten im Alltag und drücken Sie Ihre Freude darüber aus.
Zeigen Sie Verständnis und hinterfragen Sie Ihre Erwartungen
Wie reagieren Sie, wenn Ihr Kind Ihnen vorwirft, dass sich „alles immer nur um das Geschwisterkind dreht“? Wenn es Ihnen so ergeht, wie den meisten Eltern, fühlen Sie sich in die Enge getrieben, vielleicht sogar ein wenig schuldig. Nun beginnt man zu argumentieren: „Das stimmt doch gar nicht. Gerade gestern habe ich doch mit dir… hast du vergessen, dass… deine Schwester hat es halt auch schwer, das weißt du doch…“ All diese Erklärungen sind gut gemeint, führen in der Regel aber nur dazu, dass sich das Geschwisterkind nicht ernstgenommen und verstanden fühlt.
Erleichterung tritt ein, wenn Eltern dem Geschwisterkinder Verständnis dafür entgegenbringen, dass es sich zurückgesetzt fühlt und ihm zugestehen, dass das Verhalten des ADHS-lers manchmal überfordernd ist.
Dazu gehört auch, die Erwartungen an das Geschwisterkind immer wieder aufs Neue zu hinterfragen. Nicht selten fühlen sich Eltern derart aufgerieben von den Gefühlsausbrüchen des hyperaktiv-impulsiven Kindes, dass sie dem Geschwister kaum mehr negative Gefühle oder „unangemessenes Verhalten“ zugestehen. Hat sich das Geschwisterkind beispielsweise provozieren lassen, werden ihm nicht selten Sätze der folgenden Art eingebläut: „Du jetzt nicht auch noch, wir haben schon genug Probleme“ oder „Komm, der Klügere gibt nach“ oder „Du bist doch der Vernünftigere von euch beiden, jetzt reiß dich bitte zusammen.“ Solche Dauerbotschaften sind fatal. Sie geben dem Geschwisterkind das Gefühl, dass es sich keine Fehltritte leisten darf und sich ständig zusammenreißen muss – eine Erwartung, die viel Druck erzeugt und darüber hinaus unerfüllbar ist.
Das Wichtigste in Kürze:
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Und das sind wir
Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund sind Psychologen und leiten die Akademie für Lerncoaching in Zürich.