Aufmerksamkeitsdefizit / Hyperaktivität

Achtsamkeit - ein vielversprechender Ansatz für AD(H)S-Betroffene

Achtsamkeit / Mindfulness ist in aller Munde. Was verbirgt sich dahinter? Welche Übungen sind hilfreich? Und inwiefern könnte eine regelmäßige Achtsamkeitspraxis Menschen mit ADS / ADHS das Leben erleichtern? 

Menschen, die von einer ADHS betroffen sind, haben Schwierigkeiten, sich auf eine bestimmte Aufgabe zu konzentrieren und dabei Ablenkungen auszublenden. Insbesondere der vorwiegend unaufmerksame Typus (oft als ADS bezeichnet) gleitet rasch in Tagträume ab – die Aufmerksamkeit richtet sich nach innen. Hirnbereiche, welche für die Lenkung der Aufmerksamkeit zuständig sind (präfrontale Regionen und damit assoziierte Netzwerke), befinden sich bei Betroffenen häufig in einem unteraktivierten Zustand (für eine Übersicht siehe Rietzler & Grolimund, 2016).

Je nach Subtyp und Ausprägung zeigen sich verschiedene Probleme bei der Aufmerksamkeitslenkung: viele Betroffene wirken enorm zerstreut, in ihrer eigenen Welt versunken und haben Schwierigkeiten damit, sich auf Aufgaben oder Aufträge zu fokussieren. Immer wieder ertappen sie sich dabei, wie sie bereits nach kurzer Zeit gedanklich abschweifen, ihre Zeit vertrödeln und den Anschluss an das Unterrichtsgeschehen oder ein Gespräch verlieren.

Betroffene vom hyperaktiv-impulsiven oder Mischtyp stehen ständig unter Strom: Ihre Augen, Ohren und Gedanken jagen unwillkürlich jedem noch so kleinen Reiz hinterher, Emotionen und Impulse überfluten sie. 

Wird es ihnen zu langweilig oder Aufgaben zu repetitiv, geraten sie in eine als unerträglich erlebte innere Anspannung oder Müdigkeit.

All diese Schwierigkeiten weisen auf Probleme bei der Selbstregulation hin.

Es stellt sich die Frage, ob sich Kompetenzen in diesem Bereich durch Training und Lernprozesse erweitern lassen. Schließlich haben Studien aus den Neurowissenschaften immer wieder gezeigt, dass das Gehirn plastischer ist, als bisher angenommen.

Was sollte geübt werden?

Menschen mit ADHS oder ADS sind häufig dazu in der Lage, sich lange und intensiv zu fokussieren, wenn sie intrinsisch motiviert sind. Zieht ein Fach oder Themengebiet sie an und trifft es ihre Interessen, werden sie oft regelrecht eingesaugt und entwickeln eine erstaunliche Ausdauer. Schwierig wird es, wenn man die Aufmerksamkeit bewusst auf einen Gegenstand lenken muss, der wenig spannend erscheint, oder man zwischen verschiedenen Aufträgen hin- und herschalten muss.
Wenn ADHS-Betroffene ihre Aufmerksamkeitsleistung verbessern möchten, sollten sie lernen:

  1. Den Fokus auf eine einzige Sache zu richten
  2. Die Konzentration länger aufrechtzuerhalten
  3. Zu registrieren, wenn sich etwas anderes in den Vordergrund drängt oder sie in Tagträume abdriften - und sich erneut auf die ursprüngliche Aufgabe zu fokussieren. 

Es gibt verschiedene Ansätze, um diese Bereiche zu trainieren, beispielsweise Übungen zur Stärkung der exekutiven Kontrolle, Neurofeedback oder Konzentrationstrainings. In diesem Artikel möchten wir Ihnen einen Weg vorstellen, der momentan viel Forschungsinteresse weckt: die Achtsamkeitspraxis.

Warum könnte regelmäßige Achtsamkeitspraxis ADHS-Betroffenen helfen?

Unter Achtsamkeit versteht man unter anderem eine Meditationstechnik, in deren Zentrum eine wachsame, urteilsfreie und nicht-reaktive Haltung den eigenen Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen gegenüber, steht (Kabat-Zinn, 2003). Übungsphasen umfassen beispielsweise stille Sitzmeditationen, Atemübungen, bewusstes, langsames Gehen oder das willentliche Sich-Konzentrieren auf alltägliche Aktivitäten wie Essen oder Zähneputzen.

Das Ziel besteht nicht vorwiegend in der Entspannung – auch wenn diese ein schöner Nebeneffekt ist – sondern vielmehr darin, zu lernen, wie man die eigene Aufmerksamkeit willentlich und bewusst auf den gegenwärtigen Moment ausrichtet, sich für das Hier und Jetzt öffnet und ihm mit einer akzeptierenden Grundhaltung begegnet (vgl. Bishop et al., 2004). In der Fachwelt spricht man auch von der Selbstregulation der Aufmerksamkeit und der Emotionen.

In Programmen zur Stärkung von ADHS-Betroffenen werden vorwiegend zwei Bereiche trainiert: die fokussierte und die rezeptive Aufmerksamkeit (für eine Übersicht siehe Modesto-Lowe und Kollegen, 2015):

Übungen zur fokussierten Aufmerksamkeit zielen darauf ab, sich völlig auf eine bestimmte Körperempfindung oder einen Gedanken einzulassen. Man konzentriert sich beispielsweise ganz auf die Atmung und blendet dabei bewusst alles andere aus. Begeben sich die Gedanken auf Wanderschaft und lösen sich beispielsweise von der Atmung, wird man dazu angehalten, sie wieder zurückzuholen. Dadurch trainiert man, den Fokus auf einer einzigen Sache zu halten, Zerstreuung entgegenzuwirken und nicht in Tagträume abzugleiten.

Übungen zur rezeptiven Aufmerksamkeit halten uns dazu an, unseren Fokus zu öffnen und unsere Körperempfindungen, Gedanken und Gefühle im Hier und Jetzt neugierig wahrzunehmen, ohne direkt darauf zu reagieren. Dadurch soll nicht nur die allgemeine Wachsamkeit trainiert werden, sondern auch die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit gezielt und flexibel zu verlagern. Mit der Zeit soll der Zugang zu den eigenen Empfindungen, Gedanken und Gefühlen verbessert werden und die Fähigkeit sich ausbilden, sich von ungünstigen Reaktionsmustern aus dem Affekt heraus (z.B. Überreagieren bei Wut) innerlich zu distanzieren. Damit leisten diese Übungen einen wesentlichen Beitrag zur Emotionsregulation und Impulskontrolle.

Achtsamkeitspraxis und ADHS: Was sagt die Forschung?

Cairncross & Miller verfassten 2016 ein metaanalytisches Review, in welches sie die bis dato größten 10 Studien zur Wirksamkeit von achtsamkeitsbasierten Therapieverfahren bei ADHS einbezogen. Über alle Studien hinweg zeigte sich ein positiver Einfluss der Achtsamkeitspraxis auf alle Kernsymptome, wobei die Verbesserung der Aufmerksamkeitsleistung etwas größer ausfiel als jene im Bereich der Hyperaktivität / Impulsivität. Linderkamp (2020) wies in seinem metaanalytischem Review gute bis sehr gute Effekte auf die Verhaltens- und der Aufmerksamkeitsleistungen ADHS-betroffener Kinder und Jugendlichen nach. Auch das Selbstwertgefühl und die Beziehungen zu Gleichaltrigen verbesserten sich.

Auch Schmiedeler (2015) sowie Evans und Kollegen (2018) weisen in ihren Überblicksartikeln darauf hin, dass es mittlerweile einige Studien gibt, die die Wirksamkeit von Achtsamkeitsübungen bei Kindern mit ADHS und ihren Eltern belegen, dass aber qualitativ bessere Untersuchungen nötig sind, um einen definitiven und glaubwürdigen Nachweis zu erbringen.

Die Forschung zur Achtsamkeitspraxis bei AD(H)S steckt also noch in den Kinderschuhen. Erste Befunde deuten darauf hin, dass es sich um einen vielversprechenden Ansatz handelt. Wir dürfen gespannt sein, was die Wissenschaft in den nächsten Jahren noch zutage fördern wird.

Achtsamkeitsübungen

Haben Sie Lust, sich ein wenig in Achtsamkeit zu trainieren? Vielleicht gemeinsam mit Ihrem Kind?

Im Folgenden lernen Sie einige Übungen kennen.

Fokus auf eine alltägliche Tätigkeit

Achtsamkeit

Es fällt uns immer schwerer, nur eine Sache auf einmal zu tun: Wir essen vor dem Fernseher, lesen oder hören Musik, während wir einen Kaffee trinken oder nehmen sofort das Smartphone zur Hand, wenn wir zwei, drei Minuten warten müssten. Eine Studie von Killingsworth und Gilbert (2010) belegt, dass Menschen fast 50 % ihrer ganzen Zeit gedanklich nicht bei dem sind, was sie eigentlich gerade tun, und dass dieses Unachtsamsein sie unzufrieden macht. Wenn wir lernen möchten, unsere Aufmerksamkeit bewusst auf das Hier und Jetzt zu lenken, können wir dies tun, indem wir uns auf eine einzige Tätigkeit konzentrieren.

Widmen Sie sich voll und ganz einer Tätigkeit

Setzen Sie sich hin und trinken Sie ein Getränk, das Sie gerne mögen. Fokussieren Sie sich ganz auf den Geschmack und die Empfindungen, die dadurch in Ihnen ausgelöst werden. Wie riecht der Tee oder Kaffee? Wo spüren Sie den Geschmack? Welche Geschmacksnoten können Sie herausschmecken? Falls Sie ein kohlesäurehaltiges Getränk zu sich nehmen: Wie fühlt sich das ganz genau an? Auf der Zunge? Im Hals? Falls Sie ein warmes Getränk gewählt haben: Wo können Sie die Wärme wahrnehmen? Nur im Mund oder auch im Hals?

Wenn Sie diese Übung machen, werden Sie auf der einen Seite registrieren, dass Sie diese Tätigkeit verstärkt genießen können und sich ihre Wahrnehmung erweitert. Sie werden aber wahrscheinlich auch bemerken, wie schwierig es ist, ganz im Hier und Jetzt und bei einer einzigen Sache zu bleiben. Sie werden sich immer wieder dabei ertappen, wie Ihre Gedanken abdriften. Registrieren Sie das einfach, ohne es zu werten – und widmen Sie sich dann wieder bewusst der einen Sache, auf die Sie sich fokussieren möchten.

Wenn Sie Aufgaben dieses Typs häufiger durchführen, werden Sie auch bei anderen Tätigkeiten mit der Zeit besser registrieren, ob Sie abdriften.

Die Übungen müssen nicht lange dauern, sollten aber häufig durchgeführt werden: Beispielsweise ein bis zweimal pro Tag für zwei bis drei Minuten. Sie können fast jede Tätigkeit dazu nutzen: Essen, Trinken, Zähne putzen, das Geschirr spülen etc.

Nehmen Sie sich beim Warten ein wenig Zeit für sich

Im Alltag gibt es immer wieder Momente des Wartens: Wir stehen an der Bushaltestelle, in der Schlange an der Kasse – und haben meist Lust, uns sofort zu beschäftigen.
Sie können diese Momente nutzen, um sich in Achtsamkeit zu üben. Nehmen Sie dazu wahr, wie Sie sich fühlen: Sind Sie entspannt und zufrieden? Oder gelangweilt, verärgert oder gestresst? Versuchen Sie das Gefühl oder den Mix aus Gefühlen genauer zu erkunden. Wie fühlt sich Langeweile oder Stress körperlich an? Scannen Sie offen und neugierig Ihren Körper: Gibt es Stellen, die angespannt sind?

Wenn Sie möchten, können Sie zum Ende der Übung diese Stellen bewusst entspannen.

Was sehe, höre, fühle ich?

In unseren Weiterbildungen treffen wir auf immer mehr Lehrpersonen, die Achtsamkeitsübungen in den Unterricht einstreuen und damit schöne Erfahrungen machen: Die Kinder werden ruhiger, können sich besser konzentrieren und sind «bei sich» statt «ausser sich». Eine einfache Übung besteht darin, die Aufmerksamkeit bewusst auf jeweils einen Sinneskanal zu richten und dabei von aussen nach innen zu gehen: Zuerst konzentrieren sich die Kinder auf das, was Sie sehen, dann schließen sie die Augen und fokussieren sich auf das, was sie hören – schließlich können sie sich auf ihre Körperempfindungen und die Atmung konzentrieren. Unser Bär macht es vor:

Sie können die Instruktion zu dieser Übung hier herunterladen.

Wichtiger Hinweis
Achtsamkeitsübungen bauen auf einer nicht wertenden Haltung auf. Es geht darum, das Hier und Jetzt bewusst zu erleben und in sich hineinzuhorchen ohne eine Leistung erbringen zu müssen. Daher spricht der Dachs im Film mit den Kindern über ihre Empfindungen ohne diese zu werten (er lobt kein Kind dafür, dass es die Übung «gut» gemacht hat.)

Weitere wissenschaftlich fundierte und praxiserprobte Tipps zum Thema Schule, Lernen und ADHS finden Sie auf unserer Pinnwand:

 

Und in unserem Büchern:

Aktuell: Unsere Seminare zum Thema ADS / ADHS

Für Eltern:
Seminar "Erfolgreich lernen mit AD(H)S".

Für Fachpersonen:
Zweitagesweiterbildung "Ergotherapeutische Alltagshilfen bei ADHS"
Tagesweiterbildung "Kinder mit ADS / ADHS erfolgreich unterrichten"

Unsere Bücher zum Thema:
Die Autoren Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler leiten gemeinsam die Akademie für Lerncoaching in Zürich.
Die beiden verbindet eine große Begeisterung und Leidenschaft für das Schreiben von Büchern.

Unser gesamtes Seminarprogramm für Eltern finden Sie hier, das Jahresprogramm für Fachpersonen hier.

Akademie für Lerncoaching
Albulastrasse 57
8048 Zürich

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