"Hörst du mir überhaupt zu?!" - wie wir zu AD(H)S-betroffenen Kindern durchdringen können
- „Wie oft muss ich dir eigentlich noch sagen, dass…?!“
- „Das hatten wir doch besprochen.“
- „Bist du taub?“
- „Haaallooo…jemand zu Hause?“
Als Bezugsperson eines AD(H)S-betroffenen Kindes ist es gar nicht so einfach, sich Gehör zu verschaffen. Betroffene sind oftmals so versunken in ihrer eigenen Welt, dass wir kaum zu ihnen durchdringen können. (Hinweis: Zur besseren Lesbarkeit ist in diesem Artikel von ADHS die Rede. Eingeschlossen sind sowohl Kinder mit dem unaufmerksamen, hyperaktiv-impulsiven und gemischten Erscheinungsbild).
Die Ausnahme: es geht um Taschengelderhöhung, Ausgehzeiten oder ein neues Computergame, das das Kind unbedingt haben möchte – da werden die Ohren fast automatisch gespitzt. Stehen allerdings unliebsame Themen wie die Hausaufgaben oder die Haushaltsämter auf dem Programm, stößt man oftmals auf taube Ohren.
Kindern mit ADHS fällt es besonders schwer, ihre Aufmerksamkeit bewusst zu steuern. Deshalb führen Aufgaben, die von außen vorgegeben werden und eher als „langweilig“ erscheinen, zu den größten Problemen. Hier muss sich das Kind permanent dazu motivieren, am Ball zu bleiben und seinen Fokus bewusst auf die unliebsamen Aufgaben richten. Dabei fallen ihm jedoch mindestens tausend Dinge ein, die es gerade mehr interessieren oder lieber tun würde. Diese gilt es bewusst auszublenden – eine schwierige Angelegenheit! Für viele ADHS-Betroffene fühlt sich dieses Ringen um Konzentration und die Überwindung der Unlust an wie ein tagtäglicher, aufreibender Kampf.
Beobachten wir diese Kinder beim Spielen oder der Diskussion über ein Thema, das sie fesselt, würde man hingegen kaum an ein „Aufmerksamkeitsdefizit“ denken. Hierbei können sie vielfach eine enorme Ausdauer aufbringen. Warum? Ist die Materie von sich aus sehr anziehend, müssen andere Reize kaum bewusst ausgeblendet werden. Das Kind kann sich vielmehr ganz von dem leiten lassen, was gerade seine Aufmerksamkeit „einfängt“, die Aufmerksamkeits-Lenkungs-Probleme kommen weniger zum Tragen.
Aber wie dringt man zu einem Kind durch, das wieder einmal „mit dem Kopf in den Wolken“ ist? Wie verschaffen wir uns Gehör?
Warum Kinder mit ADHS oftmals „nicht zuhören“
Kinder, die als unaufmerksam und/ oder hyperaktiv-impulsiv beschrieben werden, haben oftmals große Schwierigkeiten, Informationen über das Gehör aufzunehmen. Diesen Kindern bereitet es Mühe, relevante auditive Reize herauszufiltern, zu verarbeiten und die jeweiligen Informationen im Kurzzeitgedächtnis zu behalten. Fachpersonen bezeichnen solche Auffälligkeiten als „auditive Wahrnehmungsprobleme“ beziehungsweise „Einschränkungen im Arbeitsgedächtnis“.
Der Forscher George Miller wies bereits in den 50er Jahren darauf hin, dass Erwachsene durchschnittlich 5 bis 9 Informationseinheiten im Kurzzeitgedächtnis behalten können. Diese Kapazität bildet sich über die Kindheit hinweg aus. Vergleichen wir Kinder mit ADHS mit Nicht-Betroffenen, dann zeigt sich bei ihnen oftmals eine deutlich geringere Spanne. Wenn wir wirksame Anweisungen geben möchten, sollten wir diese Auffälligkeit mitberücksichtigen. Doch wie kann das aussehen?
In der Kürze liegt die Würze
Ein Kind mit Einschränkungen im Arbeitsgedächtnis verliert bei langen Ausführungen rasch den Faden. Nehmen wir dazu die Aufforderung „Roman, wie oft hatten wir das jetzt schon? Ich bin es leid, jedes Mal wieder mit dir zu diskutieren! Kannst du jetzt bitte endlich deinen Schulranzen holen und mit den Hausaufgaben anfangen?!“ Diese Ausführung umfasst mehr als 30 (!) Speichereinheiten. Ein ADHS-betroffenes Kind wird wahrscheinlich bereits im ersten Drittel abschalten, weil der Arbeitsspeicher überlastet ist. Formulieren Sie wichtige Anliegen daher am besten möglichst kurz:
„Roman, Zeit für die Hausaufgaben. (kurze Pause) Hole bitte deinen Ranzen.“
Die Anweisung „Hole bitte deinen Ranzen“ besteht aus 4 Speichereinheiten. Sie ist klar, eindeutig und klingt nicht nach einem Vorwurf. Weniger geeignet wären:
- Roman, meinst du nicht, es wäre langsam Zeit für die Hausaufgaben? (Nein, meint er nicht ;-))
- Es wäre schön, wenn es heute mit den Hausaufgaben endlich mal vor dem Essen klappt. (So ein kleiner, versteckter Vorwurf bringt einen gleich in die richtige Stimmung...)
- Roman, hast du die Hausaufgaben schon gemacht? Ansonsten wäre es langsam Zeit. ("Mami, du weißt ganz genau, dass ich sie noch nicht gemacht habe - also frag nicht so naiv!" - "zum Glück ist es erst langsam Zeit ... dann kann ich ja noch ein wenig warten...")
Anweisungen, die zu lange oder uneindeutig sind, die in Fragen verpackt sind oder versteckte Vorwürfe beinhalten, verlieren an Wirkung und führen zu unnötigen Konflikten.
Wenn wir diesen Punkt mit Lehrpersonen diskutieren, entgegnen Sie häufig, dass manche Aufgabenstellungen einer ausführlichen Erklärung bedürfen. Eine Verkürzung ist schlichtweg nicht möglich. Damit haben sie natürlich recht. Ein typisches Beispiel aus der Mensch und Umwelt Stunde wäre:
Lehrerin: „Ich habe euch ja letztes Mal den Text über den Regenwald ausgeteilt. Nehmt ihn mal bitte alle zur Hand. Wir lesen den Text jetzt in Ruhe durch, also jeder für sich. Wenn ihr etwas nicht versteht, unterstreicht die Wörter bitte mit einem Buntstift. Unten stehen mehrere Fragen zum Text. Seht ihr? Ich möchte, dass ihr die versucht zu beantworten. Der Text ist nicht ganz einfach, also macht euch nichts draus, wenn ihr nicht alles sofort versteht. Alles klar? Dann los!“
Wie sorgen wir dafür, dass auch Kinder mit Aufmerksamkeitsschwierigkeiten oder Sprachbarrieren dieser Anweisung nachkommen können? Ich selbst (Stefanie) verwende dazu gerne die Schlagwort-Technik. Auf die oben beschriebene ausführliche Anweisung folgt eine kurze Redepause. Anschließend fasst man in Schlagworten zusammen, was Schritt für Schritt zu tun ist:
(…)
Kurze Pause.
„Also: (Lehrerin zählt die Schritte langsam und deutlich mit den Fingern auf)
- Regenwald-Text rausholen
- leise lesen
- schwierige Wörter unterstreichen
- Fragen unten beantworten."
Unterstützend können die Schritte an der Tafel notiert oder mit Piktogrammen visualisiert werden.
Sichern Sie sich die Aufmerksamkeit des Kindes
Im stressigen Familienalltag werden viele Anweisungen im Vorbeigehen erteilt. Wir rufen beispielsweise „Essen ist fertig!“ aus der Küche, um die Familie zusammenzutrommeln. ADHS-betroffene Kinder sind oftmals so in Gedanken versunken, dass sie solche Aufforderungen gar nicht wahrnehmen. Kinder (und Erwachsene) hören eher zu, wenn man:
- Sich in denselben Raum begibt und aus unmittelbarer Nähe zu ihnen spricht
- (Angenehmen) Köperkontakt herstellt, indem man zum Beispiel die Hand auf die Schulter des Kindes legt, kurz seinen Ellenbogen berührt oder ihm über den Kopf streicht (Kinder reagieren auf Körperkontakt sehr unterschiedlich – achten sie eher auf die Reaktion des Kindes um festzustellen, ob es sich mit einer bestimmten Art von Berührungen wohlfühlt oder sich darüber ärgert als auf „Theorien“ dazu).
- Sich auf die Höhe des Kindes begibt und es anschaut (es ist dabei nicht nötig, dass das Kind Ihnen in die Augen schaut – viele Kinder können besser zuhören, wenn sie ihr Gesicht etwas abwenden und ihr Ohr zu Ihnen hindrehen).
Vorsicht vor Dauerberieselung!
Gerade Kinder mit ADHS provozieren die Umwelt, ihre Eltern und Lehrkräfte dazu, ihnen ständig Anweisungen zu geben:
- Jetzt fang mal an!
- Jetzt pass doch auf!
- Hör endlich zu!
- Lass das sein!
- Komm jetzt her!
- Schau doch hin!
- Denk mal nach!
- Bist du noch da?
- Jetzt sitz mal still!
Das Problem dabei ist, dass sich die Kinder an diese ständige „Berieselung“ gewöhnen und mehr und mehr anfangen, diesen lästigen Lärm einfach auszublenden.
Ein weiteres, damit verknüpftes Problem ist, dass mit der Zeit nur noch „besondere“ Anweisungen zum Kind durchkommen und zwar solche, die:
- geschrien werden
- mit gepresster Stimme gesagt werden
- gesagt werden, während das Kind grob am Arm gepackt wird
Bei den Erwachsenen stellt sich immer mehr das Gefühl ein, dass „man zuerst laut werden muss“, bevor das Kind reagiert.
Damit die Kinder die Anweisungen überhaupt wieder wahrnehmen, müssen sie weniger davon erhalten.
Untersuchungen bei effektiven Lehrern, die ihre Klassen sehr gut „im Griff“ haben und in der Lage sind, ein angenehmes und konzentriertes Klima zu schaffen, haben ergeben, dass diese sehr wenige Anweisungen geben und kaum je laut werden. Sie ignorieren vieles, das ihnen weniger bedeutsam erscheint, erwarten dafür aber ganz klar, dass die Schüler den wenigen Aufforderungen, die sie geben, auch nachkommen.
Wenn ein Kind eine Anweisung erhalten hat, sollte es dieser nachkommen. Macht das Kind allerdings die Erfahrung: "Ich kann das auch einfach ignorieren. Die Anweisung gerät dann in Vergessenheit oder wird durch eine andere, neue Aufforderung abgelöst", dann lernt es, dass Anweisungen bedeutungslos sind.
Lehrkräfte und Eltern können beobachten, wie und ob das Kind auf eine Aufforderung reagiert. Kommt es dieser nicht nach, sollte sie ruhig aber bestimmt wiederholt werden.
Gleichzeitig ist es wichtig, das Kind nicht zu überfordern. Vielfach kommen Kinder Anweisungen einfach deshalb nicht nach, weil sie ihnen nicht nachkommen können. Sie können schlicht und einfach nicht:
- nochmals zehn Minuten konzentriert sein
- noch länger stillsitzen
- sich noch mehr merken
- schneller oder schöner schreiben
- sich anders fühlen als sie es im Moment tun
Immer wenn wir ungeduldig werden oder ins Schreien kommen, können wir uns fragen: Könnte ich stattdessen etwas anderes tun, um mir Gehör zu verschaffen? Könnte ich mich auf die Höhe des Kindes begeben? Körperkontakt herstellen? Verständnis zeigen? Die Anweisung in Ruhe wiederholen?
Nähe, Blick- und Körperkontakt sind nonverbale Mittel, die jegliche Kommunikation intensivieren, ganz gleich ob es sich dabei um Anerkennung, Kritik, eine Anweisung oder ein Wort des Dankes handelt. Stellen Sie sich dazu die folgenden Szenarien vor:
1. Ihr(e) Vorgesetzte(r) geht an Ihrem Büro vorbei, steckt kurz den Kopf herein und sagt: "Herr/Frau X, das haben Sie wunderbar gemacht!"
2. Ihr(e) Vorgesetzte(r) klopft an den Türrahmen, kommt herein, schaut Ihnen in die Augen, klopft Ihnen anerkennend auf die Schulter und sagt: "Herr/Frau X, das haben Sie wunderbar gemacht!"
Die zweite Version wird mehr Wirkung entfalten. Ob Ihnen die zweite Version lieber ist, hängt von der Beziehung ab, die Sie zu Ihrer(m) Vorgesetzten haben - sie wird jedoch auf jeden Fall von intensiveren Gefühlen begleitet sein.
Zeigen Sie Verständnis
Wir werden immer wieder auf diesem Punkt „herumreiten“ – einfach, weil er so wichtig ist. Weil es für Sie und Ihr Kind außerordentlich entlastend sein kann, wenn Sie Ihrem Kind, aber auch sich selbst gegenüber, Verständnis zeigen.
Zu diesem Punkt kann man sich als Eltern fragen: "Wie erlebt wohl mein Kind die Situation? Wie geht es ihm dabei?"
Gleichzeitig darf man sich auch fragen: „Wie erlebe ich die Situation? Wie geht es mir dabei? Was sind meine Bedürfnisse?“
Diese Fragen können dabei helfen, gewisse Forderungen an das Kind wie auch an sich selbst als unangemessen zu erkennen.
Es ist immer wieder erstaunlich, wie sehr Verständnis die Situation entspannen kann. Ein Vater erzählte mir (Fabian), dass sein älterer Sohn ein Sport-Ass sei und deswegen sehr viel Aufmerksamkeit erhalte. Man besuche ständig Wettkämpfe an den Wochenenden, er erhalte viele Auszeichnungen und einen Haufen Anerkennung aus dem Umfeld. Die kleinere Tochter zeigte sich daraufhin häufig neiderfüllt, war wütend und traurig und hatte das Gefühl, "alles drehe sich um den Bruder". Der Vater reagierte zunächst so, wie wir es wohl alle tun würden: Er versuchte der Tochter aufzuzeigen, dass sie doch auch Bereiche hat, in denen sie sehr gut ist, dass sie sich nicht vergleichen solle, nicht eifersüchtig sein müsse, und so weiter. Die Gefühle des Mädchens ließen sich jedoch nicht wegdiskutieren. Schließlich sagte der Vater an einem Abend beiläufig zu ihr: "Weißt du, ich kann verstehen, dass du eifersüchtig bist - mir würde das auch so gehen. Manchmal dreht sich wirklich alles um deinen Bruder." Der Vater erzählte mir, dass es ihn sehr erstaunt hat, "welche Veränderung im Gesicht der Tochter vor sich ging". Kurzum: die Situation verbesserte sich dramatisch - Vater und Tochter hatten einen Weg gefunden, mit diesen schwierigen Gefühlen umzugehen, indem sie sie akzeptierten und sich zugestanden, dass diese da sein dürfen.
Wir vergessen oft, wie wichtig die Erfahrung ist, dass uns jemand versteht und annimmt.
Wir beide sind Psychologen und vermitteln den Teilnehmer/innen in jeder Weiterbildung, wie wichtig Wertschätzung und Verständnis sind, wie wichtig es für Klienten oder Schüler/innen ist, dass sie sich angenommen und verstanden fühlen. Das Gleiche vermitteln wir Eltern und Lehrkräften in Kursen, Workshops und Seminaren. Und wissen Sie was? Als mir der Vater diese Geschichte erzählt hat, dachte ich: "Genial, darauf wäre ich jetzt nicht gekommen!"
Die Geschichte zeigt, dass wir zwar jemanden dazu anweisen können, wie er sich verhalten soll, aber nicht, wie er sich zu fühlen hat.
Wir können also nicht verlangen: "Jetzt sei nicht so wütend!", wir können aber sagen: "Ich weiss, dass du wütend bist - aber ich will nicht, dass du mich trittst. Hör sofort auf, solche Wörter zu mir zu sagen!"
Erwischen Sie Ihr Kind, wenn es Ihrer Aufforderung nachkommt
Ist das Kind der Anweisung nachgekommen, haben wir wieder mehrere Möglichkeiten, darauf zu reagieren. Wir können es als selbstverständlich betrachten und nicht weiter darauf eingehen oder wir können mit Anerkennung reagieren und dem Kind zeigen, dass wir erfreut oder stolz sind, dass es der Aufforderung nachgekommen ist.
Wenn wir möchten, dass das Kind dieser Anweisung und Anweisungen im Allgemeinen häufiger nachkommt, sollten wir uns für Letzteres entscheiden und zum Beispiel sagen:
- "Hey, toll! Du hast die Hausaufgaben vor dem Essen gemacht! Jetzt ist der Abend viel schöner.“
- "Ich weiss, wie wütend dich das gemacht hat - du hast kein hässliches Wort zu mir gesagt. Hut ab!"
- „Dir war total langweilig. Trotzdem konnten wir in Ruhe unseren Kaffee trinken. Danke!“
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Die besten Tipps und Tricks für Eltern von verträumten oder hyperaktiv-impulsiven Schulkindern:
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Und das sind wir
Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund sind Psychologen und leiten die Akademie für Lerncoaching in Zürich.