Muss ich mir Vorwürfe und Kritik von Eltern wirklich anhören?
Eine dialogische Antwort - Artikel von unserem Gastdozenten David Rossi, lic. phil. Psychologe, Coach, Organisationsberater und Gesprächstrainer
Wenn Eltern mich kritisieren und mir Vorwürfe machen, soll ich auch noch Verständnis zeigen?
Ja genau.
Geht’s noch? Ich brauche Respekt!
Das auch. Aber die andere Person kann dir das oft nicht schon zu Beginn geben.
Wieso nicht? Man kann ja einfach anständig und respektvoll miteinander sprechen!
Nein, wenn etwas bei jemandem starke Gefühle hervorruft und bestimmte Muster ausgelöst
werden, dann können wir uns nicht wie vernünftige Erwachsene verhalten.
Ja und dann soll ich sagen: «Sie können mich kritisieren wie Sie wollen. Ich höre mir das gerne
an!»
Nein, das brauchst du nicht.
Ja was denn nun?
Wenn du gegenseitiges Verständnis fördern und Konflikte lösen möchtest, dann musst du hinter
die Schutzverpackung aus Wut und Aggression kommen.
Welche Schutzverpackung?
Wenn wir uns hilflos fühlen, uns Sorgen machen oder wir Angst haben, dann halten wir das
manchmal fast nicht aus.
Um mit diesen unangenehmen Gefühlen fertig zu werden, verpacken wir alles mit einem Schutz
aus Aggression und Wut. Wir sind empört, werden laut und fordernd. Damit versuchen wir, oft uns
vor weiteren Verletzungen zu schützen.
Aha?
Ja. Hinter jeder Wut und jedem Angriff stecken Angst, Hilflosigkeit oder andere emotionale
Verletzungen. Die Wut, die Vorwürfe und Aggressionen sind nur die schützende Verpackung
dessen, was uns wichtig ist.
Diese Verpackung mag ich nicht. Kann ich etwas tun, damit mir jemand zeigt, was in der
Verpackung drin ist?
Ja, das kannst du. Es ist allerdings nicht leicht.
Der erste Schritt ist der Folgende: Wenn du die Verpackung aus Wut, Aggression, Belehrungen
oder Vorwürfen siehst, denkst du daran, dass dir jemand eigentlich zeigen möchte, was in der
Verpackung ist, sie dies aber sehr ungeschickt tut. Statt also sofort zu denken: Die Person ist
frech, respektlos, egoistisch usw. sagst du dir innerlich «Stopp. Hier kommt jemand mit einem
wertvollen Geschenk in einer furchtbaren Verpackung.»
Und wenn mir das gelingt?
Dann kannst du mit Fragen versuchen herauszufinden, was das Geschenk ist.
Und wie mache ich das?
Dazu muss ich kurz ausholen. Ich habe vorhin gesagt, dass wir diese unangenehmen Gefühle oft
schlecht aushalten und deswegen die Schutzverpackung drum wickeln. Diese unangenehmen
Gefühle haben zwei mögliche Gründe: Erstens können es moralische Urteile sein oder es können
unerfüllte Bedürfnisse sein.
Was sind denn moralische Urteile?
Das sind Aussagen, die Urteile im Sinne von moralisch richtig und falsch, gut und böse oder gut
und schlecht enthalten. Das können Aussagen sein wie:
Ich bin denen egal, weil sie sich nur um ihr eigenes Wohl kümmern.
Der ist manipulativ.
Die hassen meinen Sohn.
Sie ist faul.
Usw.
Solche Aussagen machen also unangenehme Gefühle?
Ja. Sowohl bei uns wie auch bei der Person, der wir es sagen.
Und der andere mögliche Grund für unangenehme Gefühle sind unerfüllte Bedürfnisse. Ist das,
wenn ich zum Beispiel meinen Kaffee am Morgen nicht trinken kann?
Nicht ganz. Bedürfnisse sind das, was alle Menschen auf irgendeine Art und Weise einigermassen
regelmässig erfüllt haben müssen. Nur dann können wir überleben und langfristig gesund bleiben.
Bedürfnisse sind also zum Beispiel: Nahrung (inkl. Wasser), Erholung, Bewegung, Verlässlichkeit,
Sicherheit, Geborgenheit, Orientierung, Sinn.Und weshalb ist mein Kaffee kein Bedürfnis. Ist das nicht Nahrung?
Doch, er passt zur Nahrung. Aber Kaffee ist lediglich eine mögliche Art und Weise der Erfüllung
des Bedürfnisses nach Nahrung. Du könntest auch Milch, Wasser, Tee oder Bouillon trinken. Was
du mit allen Menschen teilst, ist das Bedürfnis nach Nahrung. Die Art und Weise, also die
Strategie der Erfüllung, die kann von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich sein.
OK. Der Grund für unangenehme Gefühle sind also entweder moralische Urteile oder unerfüllte
Bedürfnisse.
Genau. Und moralische Urteile wiederum lösen unangenehme Gefühle aus, weil dabei
Bedürfnisse nicht erfüllt werden oder wir dies zumindest so interpretieren.
Mhm. Und wie kann ich jetzt der anderen Person helfen, das Geschenk ohne Verpackung zu
zeigen?
Das machst du, in dem du der anderen Person hilfst, herauszufinden, welche Gefühle sie hat und
um welche Bedürfnisse es ihr geht.
Ich sage also: Wie fühlst du dich und um welches Bedürfnis geht es dir eigentlich?
Nein. Das würde bei den meisten Menschen Irritation auslösen und überhaupt nicht gut
ankommen.
Wie mache ich es dann?
Du bietest der anderen Person immer ein Paar von Gefühl und Bedürfnis an und fragst, ob es das
ist. Du sagst also zum Beispiel: Bist du genervt, weil dir Verlässlichkeit wichtig ist? Oder du sagst:
Bist du irritiert und möchtest verstehen, wie ich dazu komme, dies so zu machen, obwohl wir
etwas anderes abgemacht haben?
OK. Und wenn die andere Person sagt, dass es das nicht ist?
Dann bietest du ein nächstes Paar an.
Und das mache ich, bis ich das passende Paar gefunden habe?
Ja. In der Regel ist das Gefühl schnell mal klar. Vielleicht sind es auch mehrere Gefühle. Und
häufig findet man nach zwei, drei Vorschlägen ein Bedürfnis heraus. Es kann gut sein, dass die
Person noch mehr erzählt und du mit weiteren Angeboten von Paaren weitere Bedürfnisse
herausfindest.
Und wo ist nun das Geschenk?
Die Bedürfnisse sind das Geschenk!
Wieso. Was soll ich denn damit?
Wenn eine andere Person dir Vorwürfe macht, dich kritisiert oder dich abwertet, dann möchte sie
eigentlich sagen: Ich habe hier Bedürfnisse, die nicht erfüllt werden und ich fühle mich deswegen
fürchterlich. Kannst du bitte hören, wie es mir geht und mit mir schauen, ob du vielleicht einen
Beitrag zur Erfüllung meiner Bedürfnisse leisten kannst?
Ich sehe immer noch nicht, wie das ein Geschenk ist.
Mit dieser Art der Gesprächsführung hast du bei der anderen Person bereits zur Erfüllung von
Bedürfnissen beigetragen, ohne, dass du daran gedacht hättest: Für die andere Person haben
sich im mindesten die Bedürfnisse nach Empathie, gehört werden und Unterstützung erfüllt. Und
wenn du selber zur Erfüllung von Bedürfnissen anderer beitragen kannst, ist das auch ein
Geschenk für dich.
Wie denn das?
Kennst du dieses umwerfende Gefühl der Zufriedenheit und des Glücks, wenn du dazu beitragen
konntest, jemandem aus freien Stücken zu helfen, einen Wunsch zu erfüllen oder glücklich zu
machen?
Ja, das ist wirklich sehr schön.
Nun denn, das ist das Geschenk, das dir die andere Person macht: Sie gibt dir die Möglichkeit, ihr
Leben zu verschönern und damit auch dein eigenes.
Zusätzlich hast du die Beziehung zu dieser Person gestärkt und die Wahrscheinlichkeit erhöht,
dass sie nun auch bereit ist, zur Erfüllung deiner eigenen Bedürfnisse beizutragen.
OK. Ja, das scheint mir sinnvoll und erstrebenswert.
Also wenn jemand mich kritisiert oder mir Vorwürfe macht, sage ich mir zuerst innerlich «Stopp. Da
kommt jemand mit einem furchtbar verpackten Geschenk.» Und dann helfe ich ihr oder ihm, indem
ich Paare von Gefühlen und Bedürfnissen anbiete.
Ja. Und das tust du nur, wenn du in diesem Moment genügend Energie dazu hast und du es
wirklich tun möchtest.
Ich muss also nicht?
Nein, du musst nie. Der anderen Person tut es auch gut, wenn du Sorge zu dir trägst.
OK. Das entlastet mich. Ich stelle mir das nämlich ziemlich anstrengend vor und diese Energie
oder Motivation für so eine Reaktion habe ich nicht immer. Hey, danke für das Gespräch!
Gern geschehen. Danke dir, dass du dich darauf eingelassen hast.
Über David Rossi
David Rossi ist lic. phil. Psychologe, Coach, Organisationsberater und Gesprächstrainer.
In seiner langjährigen Führungstätigkeit in einer Kita und in Sonderschulen hat er viele anspruchsvolle Gespräche mit Mitarbeitenden, Eltern und Behörden geführt und dabei seine Kompetenzen stetig vertieft.
Seit mehreren Jahren bietet er Weiterbildungen rund ums Thema "Schwierige Gespräche" an.
Weitere Informationen über David Rossi finden Sie hier: david-rossi.ch
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Ausgelöst durch unterschiedliche pädagogische Vorstellungen, Missverständnisse oder Fehler in der Zusammenarbeit steht man immer wieder vor der Frage: Soll ich es ansprechen? Und wenn ja, wie?
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