Perfektionismus bei Kindern und Jugendlichen

Die drei Gesichter des Perfektionismus (nach Hewitt & Flett)

Viele Kinder möchten in der Schule tadellose Leistungen bringen, beim Malen oder Basteln ganz korrekt arbeiten oder im Sport ihr Bestes geben. Wenn dieser Wunsch mit starkem innerem Druck, Angst vor Fehlern oder übertriebener Selbstkritik verbunden ist, sprechen Fachleute von Perfektionismus.

Aber Perfektionismus ist nicht gleich Perfektionismus. Die Forscher Paul Hewitt und Gordon Flett unterscheiden in ihrem Modell drei verschiedene Arten davon. Diese können mittels Fragebögen erhoben werden. Die drei Typen können einzeln oder kombiniert auftreten.

Selbstorientierter Perfektionismus: Ich muss perfekt sein, um meinen eigenen Ansprüchen zu genügen!

Diese Form des Perfektionismus entsteht vor allem aus dem inneren Antrieb des Kindes, hohe Leistungen zu erbringen. Kinder mit selbstorientiertem Perfektionismus stellen im Allgemeinen sehr hohe Ansprüche an sich selbst und versuchen, diesen stets gerecht zu werden. Sie setzen sich stark unter Druck, wollen anspruchsvolle Ziele erreichen und wirken oft sehr ehrgeizig. In Spiel und Sport möchten sie unbedingt gewinnen.

Oft zeigen sie schon früh eine Faszination für das Makellose, haben ein klares Bild im Kopf, wie eine Zeichnung oder Bastelarbeit am Ende aussehen sollte – und vernichten sie, wenn ihr Versuch auch nur ein wenig davon abweicht. Im Schulalter könnte ihnen eine einzige schlechte Note „den Schnitt versauen“, und der kleinste Patzer bei einer Vorführung in Musik oder Sport macht ihren gesamten Auftritt zunichte. Auf gutes Zureden im Sinne von „Das war doch ein super Auftritt!“ oder „Diesen kleinen Misston hat doch gar niemand bemerkt!“ reagieren sie oft verärgert: „Aber ICH habe ihn bemerkt! Das war schlecht!“

Fehler führen also schnell zu Selbstkritik, Scham oder übermäßigem Grübeln. Mögliche Misserfolge wirken auf sie äußerst bedrohlich: Wie enttäuscht wären sie dann von sich selbst! Das könnten sie sich nie verzeihen!

Beispiel:

Ava (9) hat im Deutschtest Sonne kleingeschrieben – ihr einziger Fehler! Doch der lässt sie nicht los! Das hätte sie doch merken müssen – es heißt doch „die Sonne“, auch wenn man die Sonne nicht anfassen kann. Wie konnte sie nur so dumm sein? Je mehr ihre Eltern versuchen, sie zu trösten und zu bestärken, desto wütender wird sie.

Sozial vorgeschriebener Perfektionismus: Andere erwarten, dass ich perfekt bin!

Kinder mit sozial vorgeschriebenem Perfektionismus setzen sich ihre hohen Maßstäbe nicht selbst – vielmehr glauben sie, dass ihre Umgebung –  etwa ihre Eltern, Lehrkräfte oder andere wichtige Bezugspersonen – tadellose Leistungen von ihnen erwarten. Sie fühlen sich nur dann wertvoll, wenn sie „alles richtig machen“ und haben große Angst, andere zu enttäuschen.

Diese Kinder erleben Leistungsdruck nicht als selbst auferlegt, sondern als von außen kommend – oft auch dann, wenn Eltern diesen Druck gar nicht bewusst ausüben.

Während makellose Leistungen bei den selbstorientierten Perfektionist/innen einem Selbstzweck dienen und sie sich oft unbändig über einen Sieg oder eine gute Note freuen können, sind die guten Leistungen für sozial vorgeschriebene Perfektionist/innen eher ein Mittel zum Zweck. Sie glauben, dass sie sich Liebe, Respekt, Akzeptanz und Anerkennung durch gute Leistungen verdienen müssen und dass bereits ein einziger Misserfolg ihre soziale Stellung ins Wanken bringt: „Dann würden mich alle auslachen.“, „Alle wären enttäuscht von mir.“, „Dann würden mich alle für einen Versager halten.“

Kinder mit sozial vorgeschriebenem Perfektionismus wirken meist nicht ehrgeizig im klassischen Sinne. Vielmehr arbeiten sie verbissen daran, ein tiefsitzendes Gefühl, nicht zu genügen, durch Bestleistungen zu kompensieren. Ihre Motivation ist darauf ausgerichtet, Misserfolge zu vermeiden und nicht darauf, Erfolge zu erzielen. Bei guten Noten empfinden sie deshalb auch eher Erleichterung als Freude oder Stolz.

Beispiel:

In Claras (12) Klasse sollen alle einen Vortrag über die jeweilige Lieblingsband halten. Clara ist sich aber schon zu Beginn unsicher, ob sie wirklich Taylor Swift nehmen soll. Finden das die anderen cool genug? Oder soll sie eher eine Künstlerin nehmen, die noch nicht so bekannt ist? Vielleicht gefällt das ihrem Lehrer besser? Während der gesamten Vorbereitung plagen Clara Sorgen und Ängste: Was ist, wenn sie den Faden verliert? Was, wenn sie rot wird? Sicher würden die anderen sie ausachen und sie wäre bei allen untendurch! Auf keinen Fall will sie ihren Lehrer und ihre Eltern enttäuschen!

Fremdorientierter Perfektionismus: Wenn man will, dass alles richtig gemacht wird, muss man es selbst tun!

Bei dieser Form des Perfektionismus richten Kinder ihre hohen Erwartungen nicht auf sich selbst, sondern auf andere Menschen: Geschwister, Freund/innen, Eltern oder Lehrkräfte. Sie erwarten, dass andere ihre Standards erfüllen, sich nichts zuschulden kommen lassen, stets fair handeln und keine Fehler machen.

Wenn jemand den hohen Ansprüchen nicht genügt, reagieren diese Kinder mit Frust, Enttäuschung oder Gereiztheit, teilweise auch aggressiv und unversöhnlich.

Typischerweise sind diese Kinder schnell ungeduldig mit anderen, kritisieren, korrigieren und verbessern Fehler oder Ungenauigkeiten bei Mitschüler/innen oder Geschwistern und haben Schwierigkeiten, Schwächen und Unterschiede zu akzeptieren.

Manchmal liegt darunter ein starkes Bedürfnis nach Ordnung, Struktur und Kontrolle und eine geringe kognitive Flexibilität (eine allgemeine Schwierigkeit, mit Abweichungen von Routinen oder Erwartetem umzugehen).

Beispiel:

Liam (10) soll in der Schule gemeinsam mit zwei Mitschüler/innen ein Plakat zum Thema „Windkraft“ vorbereiten. Sofort reißt Liam die Führung an sich und verteilt die Aufgaben. Im Verlauf der Gruppenarbeit ärgert er sich immer mehr darüber, dass die anderen „zu schlampig“ arbeiten, Fehler im Text nicht selbst bemerken und die Bilder nicht so anordnen, wie er sich das vorstellt. Irgendwann spitzt sich der Konflikt so zu, dass die anderen ihn nicht mehr in der Gruppe haben wollen und auch Liam sich weigert, weiter am Projekt mitzuarbeiten.

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Ein Buch, das Kindern und Jugendlichen zwischen 7 und 12 Jahren dabei hilft:

  • zu erkennen, dass ihr Wert als Mensch nicht von guten Noten oder Leistungen abhängt und sie sich Liebe nicht verdienen müssen.
  • Fehler als Teil des Lernprozesses anzunehmen und gelassen mit ihnen umzugehen.
  • den Mut und die Ausdauer zu entwickeln, um bei Schwierigkeiten am Ball zu bleiben, anstatt mit einem „Ich kann das nicht! Ich bin sowieso zu dumm!“ das Handtuch zu werfen.
  • den Kreislauf aus unerbittlichen Leistungsansprüchen, Prüfungsängsten und Selbstkritik zu durchbrechen.

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