Konzentration und Aufmerksamkeit fördern

Wenn Essen schwierig wird: Warum viele Kinder mit ADHS oder im Autismus-Spektrum nur eine beschränkte Anzahl von Lebensmitteln essen

Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler

Manche Kinder lieben Abwechslung beim Essen und probieren gerne Neues aus. Andere hingegen bestehen auf ganz bestimmte Speisen und reagieren heftig auf alles Unbekannte. Für Eltern und Kind wird das Essen damit oft zu einer täglichen Herausforderung.

Fast die Hälfte der Kinder isst im Alter von 1.5 bis ca. 4 Jahren sehr wählerisch und verschmäht vor allem Gemüse. Meist öffnet sich der Geschmackshorizont aber im Schulalter langsam wieder.

Bei manchen Kindern bleibt der Speiseplan aber sehr eingeschränkt. Dabei fällt auf: Besonders viele Kinder mit wählerischem Essverhalten sind neurodivergent, haben eine ADHS oder liegen im Autismus-Spektrum. Warum das so ist, wollen wir in diesem Artikel beleuchten.

Picky Eating bei ADHS und ASS - eine Frage der Wahrnehmung, nicht des Willens

Picky Eating ist kein Machtspiel, kein Zeichen schlechter Erziehung und kein Ausdruck von Verwöhnung. Vielmehr stecken dahinter oft Überforderung, Angst, der Wunsch nach Sicherheit und Verlässlichkeit oder ein besonderer Wahrnehmungsstil. Gerade Kinder mit ADHS oder ASS erleben die Welt anders und das betrifft auch das Essen.

Im Folgenden findest du die häufigsten Ursachen, warum Kinder mit diesen Diagnosen beim Essen besonders empfindlich oder wählerisch sind sowie einige Beispiele aus dem Alltag.

1. Sensorische Besonderheiten und sensible Wahrnehmung
Kinder mit ADHS und insbesondere mit ASS verarbeiten Reize anders. Was anderen kaum auffällt – eine weiche Konsistenz, ein säuerlicher Geschmack, ein intensiver Geruch – kann für sie unerträglich werden. Das Gehirn dieser Kinder filtert Reize weniger stark oder reagiert überempfindlich auf bestimmte Sinneseindrücke.

Beispiele:

  • Lina (7) isst nur trockene Lebensmittel. Sobald etwas „schleimig“ ist – wie Joghurt, gekochtes Gemüse oder Soße – muss sie würgen.
  • Jonas (9) mag es nicht, wenn sich Gerichte vermischen. Sobald sich Lebensmittel berühren oder überlagern, kann er sie nicht mehr essen. Auch dann nicht, wenn er die einzelnen Lebensmittel mag.
  • Mila (8) erkennt kleinste Stücke von Zwiebeln oder Kräutern in Soßen und bricht das Essen ab – obwohl sie vorher Hunger hatte.

Eltern von Kindern im Autismus-Spektrum sind oft erstaunt, wie den Kindern bereits kleinste Veränderungen auffallen. Eine Mutter versicherte ihrer Tochter beispielsweise, dass auch heute die wohlbekannten Chicken-Nuggets ihrer Lieblingsmarke auf dem Teller lägen. Als ihre Tochter insistierte, dass es anders schmecke, verglich die Mutter die Inhaltsangaben mit einer älteren Packung aus dem Altpapier und musste bemerken, dass der Hersteller die Rezeptur leicht verändert hatte.

2. Starkes Bedürfnis nach Kontrolle und Vorhersehbarkeit
Vielen Kindern mit ASS und einigen mit ADHS fällt es schwer, mit Veränderungen umgehen. Es fehlt ihnen an der nötigen kognitiven Flexibilität, um sich rasch auf eine neue Situation einzustellen.

Gleichbleibende Elemente wie feste Strukturen, Abläufe und Rituale geben ihnen Sicherheit in einer Welt, die oft zu viel, zu schnell und zu unübersichtlich erscheint. Beim Essen zeigt sich das in festen Abläufen: Immer dasselbe Gericht, gleich angerichtet, auf dem gleichen Teller. Abweichungen davon lösen Unsicherheit bis hin zu Verzweiflung aus.

Beispiele:

  • Tom (5) isst jeden Morgen exakt vier Toastdreiecke mit Erdnussbutter. Als seine Großmutter den Toast nicht schneiden will, verschwindet er unter dem Tisch und versteckt sich dort.
  • Emma (10) wird panisch, wenn es plötzlich etwas Neues gibt. Auch wenn das Gericht theoretisch ihren Geschmack treffen könnte, stressen sie spontane Änderungen so sehr, dass sie sich völlig blockiert fühlt. Ihr Hunger ist schlagartig verflogen.

Was wie Sturheit anmuten mag, kann in Wirklichkeit ein Versuch sein, nicht in Panik zu verfallen und die Kontrolle zu behalten.

Auch der Begriff der Verwöhnung wirkt unangebracht: Die meisten Menschen würden sich wohl kaum «verwöhnt» fühlen, wenn sie jeden Tag dasselbe auf dieselbe Weise essen müssten.

3. Impulsivität und geringe Selbststeuerung bei ADHS
An viele neue Nahrungsmittel muss man sich zuerst gewöhnen. Im Gegensatz zu süßen Speisen wie Gummibärchen oder Schokolade, die die meisten Kinder bereits beim ersten Mal mögen, müssen viele Nahrungsmittel, die ein wenig bitter schmecken, eine „komische“ Konsistenz aufweisen oder auf andere Weise ungewohnt sind, mehrmals probiert werden, um sie liebzugewinnen.

Impulsiven Kindern fällt das schwerer:

  • Leo (9) probiert nichts, das nicht auf den ersten Blick lecker aussieht. Wenn man ihm etwas Unbekanntes anbietet, denkt er sofort: «Was ist das denn!? Sieht voll eklig aus!» und ruft laut «Iiiih!», bevor er überhaupt gekostet hat.
  • Nina (8) ist nach einem stressigen Schultag hungrig. Sie musste sich schon den ganzen Vormittag zusammenreißen und ihre Batterien sind jetzt leer. Da will sie einfach etwas essen, das sie kennt und mag. Gibt es etwas Unerwartetes, wird sie so wütend, dass sie ins Zimmer stürmt und vor lauter Aufregung gar nichts mehr essen kann.

4. Schwarz-Weiß-Denken und Detailverliebtheit
Viele Kinder mit ASS (und manche mit ADHS) denken sehr konkret und kategorisch. Sie speichern ein Lebensmittel als „gut“ oder „schlecht“ ab – und diese Bewertung ist nur schwer veränderbar. Ein einmaliges negatives Erlebnis kann dazu führen, dass ein Lebensmittel dauerhaft abgelehnt wird.

Beispiele:

  • Lukas (7) hat einmal ein Knorpelstück im Hackbraten gefunden. Das fand er so eklig, dass er sich von da an weigerte, dieses Gericht zu essen, obwohl es früher eines seiner Lieblingsessen war.
  • Mira (10) hat sich vor zwei Jahren an einer Penne verschluckt. Seither meidet sie alle Nudelformen, die «röhrenartig» aussehen. Zu Hause ist das kein Problem. Schwieriger wird es, wenn Mira bei Freunden essen möchte.

Oft geht es also bei der Weigerung, bestimmte Nahrungsmittel zu essen, nicht nur um den Geschmack, sondern auch um visuelle Reize, Gerüche, die Konsistenz oder Erinnerungen. Und diese inneren Kategorien sind meist felsenfest verankert.

5. Soziale Überforderung beim Essen
Besonders Kinder im Autismus-Spektrum, aber auch Kinder mit ADHS, erleben Mahlzeiten in Gruppen als anstrengend. Sie können sich dann nur schwer konzentrieren, sind schnell reizüberflutet und fühlen sich beobachtet. Dann lieber gar nicht essen – oder nur das Altbekannte.

Beispiele:

  • Eren (9) isst auf Familienfesten fast nichts. Alles ist ihm zu laut, zu chaotisch und stressig. Sogar sein Lieblingsgericht lässt er stehen.
  • Lena (10) verbringt zwei Mittage in der Woche im Hort. In der Kantine gibt es aber so viele Reize, dass sie nur mit leerem Blick vor ihrem vollen Teller sitzen bleibt. Erst wenn die anderen Kinder fertig sind und draußen spielen, scheint sie plötzlich «zu erwachen» und nimmt ein paar Bissen zu sich.
  • Die Eltern von Janis (9) ärgern sich über das wählerische Essverhalten ihres Sohnes. Janis fühlt sich während des Essens oft beobachtet. Die Kommentare der Eltern setzen ihn so sehr unter Druck, dass ihm bereits der Appetit vergeht, wenn er an den Tisch kommen soll.

6. Einfluss von Medikamenten
Viele Kinder mit ADHS werden mit Stimulanzien behandelt. Diese Präparate können zwar die Aufmerksamkeitslenkung unterstützen und die Hyperaktivität und Impulsivität reduzieren. Dafür dämpfen sie häufig das Hungergefühl – vor allem mittags. Das Kind hat dann schlicht keinen Appetit oder isst nur aus Gewohnheit.

Beispiele:

  • Paul (10) isst morgens gut, mittags kaum und später, wenn die Wirkung nachlässt, alles, was er findet. In der Schule hat er keinen Hunger, obwohl seine Brotbox voll ist.

Das hat oft nichts mit Picky Eating im engeren Sinn zu tun, kann aber ähnliche Folgen haben: unregelmäßiges Essen, wenig Vielfalt und vermehrte Heißhungerattacken.

7. Veränderte Geschmackswahrnehmung
Einige Kinder berichten, dass bestimmte Speisen für sie „anders“ schmecken – intensiver, schärfer, manchmal sogar unangenehm metallisch. Das kann mit einer genetisch bedingten, anderen Art der sensorischen Verarbeitung zusammenhängen.

Beispiele:

  • Nico (7) sagt, Apfelsaft „brennt im Mund“. Seine Eltern dachten erst an Übertreibung, bis sie merkten: Für ihn ist die Säure wirklich kaum erträglich.

Geschmack ist nicht objektiv. Kinder mit ADHS oder ASS nehmen ihn oft anders wahr und ziehen ihre ganz eigenen Schlüsse daraus.

Was Eltern tun können

Was für Außenstehende wie „Anstellerei“, Verwöhntheit oder Trotz aussieht, ist oft eine vielschichtige Mischung aus Wahrnehmung, Erfahrungen und einem Bedürfnis nach Sicherheit.

Je mehr Eltern sich sorgen und das Kind drängen, sein Verhalten zu ändern, desto schneller entsteht ein Teufelskreis. Fühlt sich das Kind beim Essen beobachtet und bewertet, erlebt es immer wieder Kritik oder fühlt sich unter Druck gesetzt, wird die Situation am Esstisch immer stressiger und belasteter. Genau das macht es noch schwieriger, sich auf Neues einzulassen.

Als Eltern können wir daher nicht so viel tun, außer:

  • Vorbild sein und dem Kind durch unser Verhalten zeigen, dass uns das Essen schmeckt.
  • Dem Kind eine sichere Speise anbieten, aber dennoch abwechslungsreich kochen und dadurch dafür sorgen, dass das Kind neue Speisen immer wieder sieht und dadurch Ängste ab- und Neugier aufbauen kann – ohne dass wir es nötigen, zu probieren.
  • Nahrungsmittel getrennt anbieten. So kann sich das Kind selbst bedienen und jedes Familienmitglied kann sich nehmen, was es möchte.
  • Kinder einladen, gemeinsam mit uns zu kochen, damit sie sich mit neuen Gerüchen und dem Anblick von Speisen vertraut machen können. Sich freuen, dass das Kind lecker für uns gekocht hat, ohne es unter Druck zu setzen, jetzt auch zu probieren.
  • Für eine entspannte Situation am Esstisch sorgen und das Zusammensein in den Vordergrund stellen, anstatt zu beobachten, wer wovon wieviel gegessen hat.

Mehr dazu erfahrt ihr in unserem Buch «Willst du nicht wenigstens mal probieren?»:
Im Kinderteil stellen wir Eltern-Kind-Gespanne vor, deren Vorstellung von gutem Essen weit auseinandergehen: Mistkäfereltern, die von dampfendem Wildschweinmist schwärmen, den das Töchterchen leider verschmäht. Mama Eule, die den Speisebrei extra vorverdaut hat und ihre Jungen, die den grauen Kotzeballen nicht einmal probieren wollen. Und die kleine Ente, die bei Nacktschnecken nur den Kopf schüttelt und nicht einmal am Schleim lecken will:

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Weitere Bücher zum Thema ADHS und ADS:

Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler sind Psychologen und leiten die Akademie für Lerncoaching. Das Experten-Team führt Seminare für ElternWeiterbildungen für Fachpersonen sowie Vorträge an Schulen rund um das Thema Lernen durch. Die beiden verbindet eine große Begeisterung und Leidenschaft für das Schreiben von Büchern.

 

 

Akademie für Lerncoaching
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