Gastbeiträge zu "ADHS/Lernstörungen"

Hohes Potential und Lernschwierigkeiten - Twice Exceptionality

Theoretische Inputs, Anregungen aus der Förderpraxis für Fachleute und Eltern

Um was geht es?

Seit einigen Jahren wird dem Phänomen der Twice Exceptionality (im Folgenden abgekürzt mit TE) erfreulicherweise sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt.

«Als Twice Exceptionals werden Lernende bezeichnet, die einerseits eine überdurchschnittliche Fähigkeit aufweisen und andererseits auch eine Lernschwierigkeit.»1

Es besteht inzwischen weitgehend Konsens darüber, dass Schwierigkeiten im Lernen unabhängig von einem hohen Potential auftreten können. Und dass ein hohes Potential nicht zwingend in Exzellenz münden muss2. Bedauerlicherweise ist die TE in den Schulen aber noch nicht so bekannt, dass entsprechende pädagogische Massnahmen eingeleitet würden. Wir beobachten im Zusammenhang mit dem Phänomen, dass die Schwierigkeiten im Zentrum der schulischen Förderung stehen – und nicht die Förderung des Potentials. Und so entsteht ein Ungleichgewicht auf Kosten der Begabungs- und Persönlichkeitsentwicklung der Lernenden oder des Lernenden.

Mit diesem Artikel möchten wir einen Beitrag zum besseren Verständnis der besonderen Lernbedürfnisse von Kindern mit TE leisten. Es sind nicht selten die Bedingungen, welche Kinder daran hindern, ihr Potential zu entfalten. Wir werden zeigen, was wir diesbezüglich aus lerntherapeutischer Sicht oder aus Sicht der Marte Meo Kommunikationsmethode beobachten – und welche Begleitung helfen kann.

Begabtenförderung und/oder sonderpädagogischer Förderansatz?

«In What Makes Giftedness (1978) definierte Renzulli Hochbegabung im Sinne eines hohen Leistungspotenzials als eine Kombination aus drei Faktoren, nämlich überdurchschnittliche Fähigkeit, Kreativität und Aufgabenverpflichtung, die bei bestimmten Menschen und unter bestimmten Bedingungen auftreten.»3

Renzulli ging es in seinem Modell darum, das Spektrum für Kinder zu öffnen, die potenziell begabt sind (in Abkehr von den – heute noch immer dominierenden – traditionellen Intelligenztests). In der aktuellen TE-Forschung konnte abstützend auf dieses Modell folgendes Fazit gezogen werden: Lernende mit Lernbeeinträchtigungen und mit hohen intellektuellen Fähigkeiten waren kreativer und hatten intensivere Interessen als begabte Gleichaltrige oder solche mit Lernschwierigkeiten und durchschnittlicher Intelligenz – aber erlebten zugleich eine geringere Selbstwirksamkeit, sahen sich als Schulversager und wiesen von den drei untersuchten Gruppen die störendsten Verhaltensweisen in der Schule auf.4
Es liegt daher unserer Meinung nach auf der Hand, dass Angebote mit einem herkömmlichen sonderpädagogischen Förderansatz bei diesen Lernenden nicht respektive zu einseitig greifen. Ein Hand-in-Hand-Gehen der Sonderpädagogik mit der Begabtenförderung sehen wir hier als zwingend an.

Merkmale eines hohen Potentials

  • Früh auftretende ungewöhnlich ausgeprägte Wachsamkeit
  • Schnelle Auffassungsgabe und rasches Denken
  • Gute Merkfähigkeiten und starkes Erinnerungsvermögen
  • Abstraktes, komplexes, logisches und schlussfolgerndes Denken
  • Lange Aufmerksamkeitsspannen, Ausdauer und intensive Konzentration
  • Ungeduld mit sich selbst oder mit anderen
  • Hohes Mass an Neugierde, z.B. viele Fragen, die weit über den Unterrichtsstoff hinausgehen

Diese Merkmale weisen auf besondere intellektuelle Bedürfnisse dieser Kinder hin. Und wir beobachten, dass Kinder mit diesen Bedürfnissen in der Regel auch sehr autonomiebestrebt und selbstbestimmt sind. Zudem bevorzugen sie ein hohes Vermittlungstempo und komplexe Aufgabenstellungen. Wiederholungen benötigen sie weniger als andere Kinder. Diese Lern- und Persönlichkeitsbedürfnisse geben wichtige Hinweise darauf, welche Aspekte bei der Begabtenförderung, bei der lerntherapeutischen Begleitung und bei der Begleitung nach der Marte Meo-Methode im Zentrum stehen sollten. Gute Hinweise, wie Eltern und Fachleute mit diesen Bedürfnissen umgehen und wie sie ihre Kinder begleiten können, geben Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund in ihrem Blogartikel «Hochbegabung Tipps für Eltern». Darin setzten sie sich zudem vertiefter mit der Thematik Hochbegabung auseinander.

Mögliche Lernschwierigkeiten

In unseren beiden Lernpraxen Artcoaching Berweger und Schreibstrom begleiten wir Kinder, die neben einem hohen Potential mit unterschiedlichen Lernschwierigkeiten und auch Diagnosen konfrontiert sind, am häufigsten mit ADS/ADHS, LRS und ASS. Das sind Herausforderungen, die Kinder mit diesen besonderen Lernbedürfnissen zu bewältigen haben. Hierin die Lernenden zu unterstützen ist selbstverständlich notwendig, jedoch darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass diese Kinder ihre Begabung genauso mitbringen wie ihre Lernschwierigkeit. Die doppelt differenzierte Herangehensweise ist bei der Förderung und Lernbegleitung deshalb ganz wichtig.

Susan Baum und Robin Schader haben bei ihrer Zusammenstellung der Herausforderungen und Stärken, die ADS/ADHS, Legasthenie und ASS gepaart mit einem hohen Potential mit sich bringen, auf eine konsequent stärkenorientierte Formulierung der Lernschwierigkeiten geachtet. Damit bieten sie eine ganz andere, neue Perspektive auf diese Diagnosen und Herausforderungen, die fast schon einem Paradigmenwechsel gleichkommen könnte.

Wir finden, dass diese Zusammenstellung inspirierend und hilfreich sein kann, um die Komplexität der TE-Lernenden zu verstehen und als Lernbegleiterinnen selbst Ideen für eine doppelte Differenzierung (gleichzeitige Förderung der Begabung und dem Ausgleichen der Schwächen) zu entwickeln:

ADHS

«ADHS kann als ein Gehirn mit einer sehr niedrigen Langeweile-Schwelle verstanden werden. Menschen, die sich gegen das Alltägliche und die Routine wehren, und doch zeichnen sie sich in chaotischen Situationen aus.» (Archer, 2015)

Herausforderungen:

  • leicht ablenkbar, selektiv aufmerksam, Schwierigkeiten beim Erledigen von Aufgaben
  • hyperaktiv, braucht Stimulation und Bewegung
  • oft impulsiv und «unorganisiert»

Stärken:

  • oft kreativ, intuitiv, Gespür für Innovation und unkonventionelles Denken
  • hat oft viel Energie
  • oft neugierig, bereit, ein Risiko einzugehen, sich auf Abenteuer einzulassen, nach neuem zu suchen

Legasthenie

«Legasthenie ist eine Fähigkeit innerhalb des Sinnesmechanismus im Nervensystem, die Welt mit einer mehrdimensionalen Sichtweise wahrzunehmen. Richtig ausgebildet und informiert können Legastheniker ihre natürlichen Fähigkeiten nutzen, um die Wahrnehmung zu verändern, die Kreativität zu fördern, das Denken zu verfeinern und die körperliche Leistungsfähigkeit zu verbessern.» (Judah, www.dyslexiacenter.com/about-us)

Herausforderungen:

  • Schwierigkeiten bei der Dekodierung der Schriftsprache
  • oft Schwierigkeiten in Rechtschreibung und mit der Handschrift
  • Probleme beim Auswendiglernen von Fakten und Details

Stärken:

  • oft metaphorisches Denken, Verbindungen zwischen den Ideen herstellen, Wahrnehmung von Dingen, die anderen entgehen
  • Dinge in 3D-Raumperspektive visualisieren, kann wie ein Architekt, Ingenieur oder Filmemacher denken
  • narrativ begründen, durch die Erinnerung an Geschichten, Episoden und Konzepte argumentieren

Autismus-Spektrum-Störung

«Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) haben oft einzigartige Herausforderungen zu bewältigen, wenn es darum geht, Routinen und Beziehungen aufzubauen, die funktional und erfüllen sind (...). In dem Masse, wie unser Wissen und Verständnis von ASS zunimmt, wächst auch unsere Einsicht in die Stärken von ASS: Detailgenauigkeit, Problemlösefähigkeit, Erinnerungsvermögen und visuelle Fähigkeiten.» (Panzano 2018)

Herausforderungen:

  • oft nicht in der Lage, das Grosse und Ganze zu erfassen
  • oft soziale Unbeholfenheit und mangelnde soziale Kenntnisse
  • unflexibel im Denken, benötigt Voraussehbarkeit und Routine

Stärken:

  • oft sachkundig, kompetent und leidenschaftlich in einem bestimmten Interessengebiet, dort hohe Motivation
  • intensive Konzentration auf Details und Verfahren
  • neigt bei der Entscheidungsfindung zu logischen Kriterien ohne Rücksicht auf Emotionen

Erstaunliche Zahlen: Handlungsbedarf

Susan Baum fand in ihren Forschungen heraus, dass bis zu 33 Prozent der Schülerinnen und Schüler, die eine sonderpädagogische Förderung erhalten entweder im Verbal- oder im Handlungsteil einen Intelligenzquotienten im oberen Segment der Intelligenzskala aufwiesen.5
Diese Lernenden wurden weder als begabt identifiziert noch erhielten sie eine Förderung, wie sie den Begabten ohne Lernbeeinträchtigung zukamen.6 Dass hier ein Handlungsbedarf besteht, ist offensichtlich.

Gleichzeitige Begleitung der Begabung und Ausgleichen der Schwächen

«Wir müssen verstehen, dass solche Schüler/innen ihre Begabung auch zum heilpädagogischen Förderunterricht mitbringen, so wie sie ihre Schwächen auch in die Begabtenförderung tragen.»7

Bei Kindern mit einem hohen Potential und einer Lernbeeinträchtigung ist es notwendig, die Förderplanung jeweils aus beiden Perspektiven vorzunehmen und so der Komplexität der TE-Lernenden gerecht zu werden. Das kann manchmal auf den ersten Blick zu Widersprüchen führen, da es eine doppelte Differenzierung verlangt. Aber genau diese Widersprüche sind es, die diese Lernenden mitbringen und ihre Lernbedürfnisse mitgestalten.

Grafik Twice ExceptionalityDie Grafik verbildlicht die Situation, mit der wir als Lernbegleiterinnen konfrontiert sind.

Die Schlussfolgerung für die Lernbegleitung von TE-Lernenden ist die doppelt differenzierte Herangehensweise bei ihrer Förderung, damit wir diese Kinder (im grünen Bereich) optimal fördern können.
Und das heisst eben genau nicht, isolierte Förderungen von z.B. einmal in der Woche Begabtenförderung und einmal in der Woche LRS-Training.

Sondern damit ist gemeint, dass in der Begabtenförderung das LRS-Training integriert und so konzipiert wird, dass es an den Lernbedürfnissen eines Kindes mit einem hohen Potential angepasst ist.

Zum Beispiel: Es ist nicht sinnvoll, ein Kind, das eine Hochbegabung im Bereich Sprache aufweist und sich gleichzeitig im Autismus-Spektrum bewegt, von einem Thema abzubringen, auf welches das Kind über einen uns lang erscheinenden Zeitraum fokussiert (z.B. minutiöses Erforschen und auch Imitieren einer Buchserie beim Schreiben, Auswendiglernen des Fahrplans etc.). Es kann förderlicher sein, innerhalb dieses Themas zu bleiben, dieses zu vertiefen, kreativ zu erweitern, anders zu beleuchten und gleichzeitig auf diesem Lernweg die Schwächen auszugleichen. Dazu gehören bei Kindern im Autismus-Spektrum die Förderung der Flexibilität und die Förderung der exekutiven Funktionen wie Selbstkontrolle und Handlungsplanung.
Letztlich ist die doppelt differenzierte Herangehensweise auch in ihrem Ansatz eine ganzheitliche Förderung, die also die Person als Ganzes wahrnimmt, nämlich mit ihren Stärken und Schwächen – also Kognition, Emotion und Motivation umfasst. In unseren Augen ist diese die passende und notwendige Förderung auch für TE-Lernende.

Wie kann es sich auswirken, wenn das Kind keine passende Förderung erhält?

Einige mögliche Schwierigkeiten, die bei Kindern auftauchen können, die nicht passend gefördert werden:

  • verlieren Selbstvertrauen und werden ängstlich
  • verlieren Selbstwirksamkeit
  • nutzen ihre Kreativität, um zu kompensieren, und dadurch geht wertvolle Energie für das Lernen und Entdecken des eigenen Lernwegs verloren
  • erleben ihrer Andersartigkeit als negativ
  • laufen Gefahr, depressive Verstimmungen, Episoden oder sogar eine Depression zu erleben (zuweilen erleben sie es so stark, dass sie das Leben als nicht mehr lebenswert empfinden)8
  • negatives Selbstbild, manchmal auch nur auf gewisse Fächer bezogen

Wie kann sich eine Twice-Exceptionality-Thematik konkret bei Kindern zeigen?

  • Besonders bei Kindergartenkindern oder Lernenden in den Unterstufen mit hohem Potential und Lernschwierigkeiten oder auch Entwicklungsverzögerungen haben diese unterschiedlichen Fähigkeiten von Denken und Handeln einen grossen Effekt auf ihr emotionales Wohlbefinden. Das kann sich im Familienalltag in starken Gefühlsausbrüchen und wenig Kooperationsbereitschaft der Kinder zeigen und für das Umfeld belastend werden. Wird der Blick nun einerseits konsequent auf die Förderung der Begabungen, der Stärken und Interessen gelegt, andererseits aber auch auf die Begleitung der Lernschwierigkeiten, erhält das Kind, die Möglichkeit wieder Motivation und Selbstvertrauen zurückzuerlangen, sein Wohlbefinden zu steigern, sich zu entspannen und so ausgeglichener im Alltag zu interagieren.

  • Kinder mit einem hohen Potential weisen in der Regel auch ein hohes kreatives Potential auf. Gleichzeitig kann ausgeprägtes kreatives Denken auch mit einer ADS/ADHS-Thematik einhergehen. Zu diesem Denken gehört auch das Entwickeln von einer Vielzahl an Ideen. Manchmal mit dem Effekt, dass viele Projekte begonnen, aber nicht zu Ende geführt werden. Diese Kinder brauchen Felder, in denen sie sich, mit ihrer Art zu denken, erproben können, damit sie Strategien und Strukturen für ihren Lernweg entwickeln können. In diesen Feldern, wie z.B. Gestalten oder bei kreativen Schreibprojekten, können sie dann ihr Denken als Stärke erleben, weiterwachsen und die neu erworbenen Strategien und Strukturen in anderen Feldern und insbesondere auch in jenen, die im Bereich der Lernschwierigkeit liegen, anwenden.

  • Bei Kindern im Autismus-Spektrum mit einem hohen Potential kann der hohe Wissensdurst, wenn eine Reizüberflutung stattgefunden hat, in starker Erschöpfung oder in Wutausbrüchen enden, wodurch die Freude an Kreativität stark blockiert wird.

  • Eher introvertierte TE-Lernende (in der Regel oft Mädchen) laufen Gefahr, dass man ihre Lernschwierigkeit sehr spät entdeckt. Ausgehend von dieser Situation brauchen diese Kinder später lerntherapeutische oder sogar psychotherapeutische Begleitung. Oft fallen diese Schwierigkeiten in der Schule nicht auf, sie werden dort mit durchschnittlichen Leistungen wahrgenommen. Diese Kinder kompensieren, kaschieren ihre Probleme, wofür sie nicht selten die ausgeklügeltsten Systeme entwickeln. In der Schule wird in der Folge kein besonderer Förderbedarf gesehen. Diese Kinder erhalten daher weder eine Förderung ihrer Stärken und Begabungen noch eine Unterstützung bei ihrer Lernschwierigkeit.9

Beobachtungen aus der Praxis

In unseren Praxen, wo wir lerntherapeutisch (Schreibstrom) oder mit Hilfe der Marte Meo Methode (Artcoaching) vorgehen, beobachten wir, dass solche Ausgangssituationen für Kinder oft schwierig sind. Sie denken schnell und komplex, gleichzeitig können sie dies auf der Handlungsebene teilweise nicht umsetzen. Das untenstehende Modell eines Lernwegs von Kathrin Berweger zeigt diese Spannungspole.

Grafik Lernweg

Ihre unterschiedlichen Fähigkeiten von Denken und Handeln verursachen bei den Kindern oft sehr intensive Gefühle von Frustration, was zu vermeidendem Verhalten führen kann. Auf diese Weise können sich bei ihnen negative Selbstbilder entwickeln, sie fühlen sich entmutigt und haben wenig Selbstvertrauen. Solche Beobachtungen schildern Eltern und machen wir in unseren Begleitungen.

Anregungen aus der Schreibstrom-Praxis von Svenja Herrmann: Kreative Schreibförderung bei LRS, ADS/ADHS und ASS aus Sicht der Lerntherapie

Der lerntherapeutische Ansatz nach Armin Metzger geht davon aus, dass Person und Lernen untrennbar voneinander sind. Das Lernen geschieht immer mit der ganzen Persönlichkeit. Deshalb ist der Ansatz ganzheitlich und bezieht Kognition, Emotion und Motivation gleichermassen ein und versteht sich als psychologisch gestützte Lernbegleitung. Das heisst, je nachdem welche Lern- oder Entwicklungsfrage aktuell bei einem Kind im Vordergrund steht, werden im lerntherapeutischen Vorgehen unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. Wichtig ist es für mich, bei der Begleitung immer darauf zu achten, dass sich das Kind kompetent und selbstwirksam erlebt. Das kann über einen Lerngegenstand seines Interesses geschehen und ausgehend von diesem Lernprozess können Themen wie Emotion und Motivation angeschaut werden.

Bei den Angeboten von Schreibstrom ist es oft der persönliche Schreibprozess, der als Türöffner für das Explorieren des eigenen Lernwegs fungiert, und innerhalb dieses Prozesses das Kennenlernen der eigenen Bedürfnisse und das Erfahren von Erfolgserlebnissen wie auch das Entdecken des Umgangs mit Schwierigkeiten.

«Schreiben» bedeutet bei Schreibstrom, dass der persönliche und künstlerische Schaffens- und Lernprozess kontinuierlich begleitet wird. Der Austausch über den Text führt oft dazu, dass es in fliessendem Übergang zu Gesprächen über eigene Erfahrungen und Gefühle, über freudvolle oder frustrierende Erlebnisse kommt. Somit entsteht durch die Arbeit an einem Text ein grösserer Resonanzraum, der es den Schreibenden ermöglicht, sich selbst wahrzunehmen, zu vertrauen – und zu erleben, dass eigene Ideen ernstgenommen und verwirklicht werden können. Der literarische Schreibprozess ist auch ein persönlicher Reifungsprozess. Er ist jeweils einzigartig und geht deutlich über die reine Textarbeit hinaus. Ermutigendes, freies Schreiben hilft.

TE-Lernende mit LRS, ADS/ADHS oder im Autismus-Spektrum und einem hohen Interesse für das Literarische hilft das kreative Schreiben und das Vertiefen in ihr literarisches Projekt dabei, wieder Zuversicht zu schöpfen und Blockaden zu lösen, um leichter und besser schreiben und lesen zu können. Gleichzeitig passe ich die LRS-Trainingseinheiten so an, dass sie den Lernbedürfnissen eines Kindes mit einem hohen Potential entsprechen und in dem interessengeleiteten Lernen ihren Ort finden. Oder ich integriere die Förderungen von Lernstrategien für Kinder mit ADS/ADHS oder im Autismus-Spektrum entsprechend.

Anregungen aus der Artcoaching-Praxis von Kathrin Berweger, entwicklungsorientierte Marte Meo Methode

Die videobasierte Marte Meo Methode gibt Anregungen, wie Kinder z.B. im Aufbau ihres Selbstvertrauens, im Entwickeln von positiven Selbstbildern, Lenken ihrer Aufmerksamkeit und im Umgang mit intensiven Gefühlen passend begleitet werden können. Generell lassen sich Fragestellungen rund um die Entwicklung von personellen und sozialen Fähigkeiten mit dieser Methode bearbeiten. Mittels der Marte Meo Methode können Kinder in ihrer Selbstwahrnehmung unterstützt werden und so ihr Selbstvertrauen aufbauen. Auf der Basis Selbstwahrnehmung (Marte Meo “Selbstregistrierung”) entwickelt das Kind seine Selbstregulierung. Unterschiedliche Facetten der Selbstregulierung sind z.B. die Gefühlsregulierung, die Selbstorganisation, die Selbststeuerung sowie Problemlösefertigkeiten und der Aufbau innerer Lösungsmodelle. Kurz zusammengefasst, das Kind muss sich zuerst wahrnehmen, damit es seine Selbstregulierung entwickeln kann. Dieser Vorgang wird durch das Verbalisieren von Handlungen, Initiativen oder Gefühlen und sozialen Situationen unterstützt, dabei werden Selbstregulierungsprozesse aktiviert.

Anregungen für die Begleitung der Kinder in der Familie

Begleiten von starken Gefühlen wie Frustration
Wie das Modell «Lernweg mit hohem Potential und besonderen Förderbedürfnissen» zeigt, spielen bei einer solchen Diskrepanz von Denken und Handeln starke Gefühle, wie Frustration oder auch vermeidendes Verhalten eine grosse Rolle. Insbesondere können sich diese bei den Hausaufgaben oder im Familienalltag durch Wutausbrüche und Schwierigkeiten zur  
Kooperation zeigen. Kinder mit TE sind sehr auf eine feinfühlige Begleitung ihrer Gefühle angewiesen. Wie können Sie Kindern in emotional schwierigen Momenten begleiten?

  • Gefühlsausbrüche verlaufen meist so, dass die Gefühle immer intensiver werden, bis sie schliesslich eskalieren. Eine typische Situation ist der Übergang, das Nachhausekommen von der Schule. Für Kinder mit der TE-Thematik ist der Schulalltag emotional sehr herausfordernd. Zu Hause entspannen sie sich und zeigen, wie es ihnen geht.
  • Eine Möglichkeit, das Kind mit seinen Gefühlen abzuholen, ist diese wert- und urteilsfrei zu verbalisieren (Marte Meo, Wörter geben), eine andere, oft hilfreiche, sind emotionale Töne. Beobachten Sie in der Interaktion mit dem Kind, ob es besser auf «du bist wütend» (oder auch nervös, verärgert, angestrengt etc.) anspricht oder eher auf einen Ton wie «mmh, ääh, grrr» (passend zum Gefühl des Kindes, in der Gesichtsmimik des Kindes lassen sich diese gut beobachten). Zu viel zu sprechen kann Situationen manchmal auch zum Eskalieren bringen.
  • Achten Sie auf einen Anschluss zum Kind, erst dann nimmt das Kind wahr, dass Sie in einem gemeinsamen Projekt sind, und ist offen für Ihre Informationen. Der Anschluss kann über eine Berührung, ein Lächeln, das Nennen des Namens geschehen oder indem Sie das Gesagte des Kindes wiederholen, Wörter geben (urteils- und wertfrei), einen einladenden Ton wählen und so auf eine angenehme Atmosphäre hinwirken.
  • Geben Sie dem Kind, in dem Sie Ihre Handlungen, Gefühle und Initiativen verbalisieren, Orientierung und hilfreiche Strukturen, das Kind profitiert so grösstmöglich von Ihnen als Vorbild und Sozialmodell. Passen Sie Ihr Tempo dem an das des Kindes an.

Ein positives Selbstbild aufbauen

Das Selbstbild von Kindern mit einem hohen Potential und Lernschwierigkeiten leidet oft unter der doppelten Herausforderung. Kinder mit TE laufen Gefahr, von ihrem Umfeld, sei es schulisch oder auch familiär, mit ihren Bedürfnissen nicht erkannt zu werden. Mit der Folge, dass ihre Anstrengung und Bemühungen zu wenig gesehen werden und dass sie sich nicht wahrgenommen fühlen. Sie fühlen sich abgelehnt und nicht wertgeschätzt. Ab und zu beobachte ich dieses negative Selbstbild nur auf einzelne Fächer bezogen, manchmal tangiert es mehrere Bereiche ihrer Persönlichkeit.
Besonders Situationen, in denen das Kind seine Aktivitäten selbst wählt, eignen sich wunderbar zum Aufbauen eines positiven Selbstbildes und des Selbstvertrauens. Ihre Aufmerksamkeit und Zeit in solchen Momenten, stärkt die Beziehung und kommt beiden in schwierigeren Momenten zugute. Diese guten Momente stärken Ihre Beziehung zu Ihrem Kind. Was sollten Sie in diesen Situationen tun? Möglichst wenig, die Aktivität sollte in erster Linie beim Kind liegen. Wenig heisst nicht nichts: Geben Sie Ihrem Kind die volle Aufmerksamkeit und Ihr Interesse. Beim aufmerksamen Begleiten warten Sie, folgen mit Ihrer Aufmerksamkeit und verbalisieren die Handlungen, Initiativen und Gefühle Ihres Kindes. Damit ein Kind seine nonverbalen und verbalen Handlungsimpulse aus sich heraus entwickeln kann, braucht es Zeit und Raum. Aktionen, Gefühle, Blicke, Töne und Bewegungen sind alle mögliche Handlungsimpulse. Auf diese Weise kann es Selbstvertrauen tanken, auf seinem Weg ermutigt werden, positive Aufmerksamkeit bekommen und Ideen entwickeln. Mit dem Effekt, dass das Kind z.B. von sich denkt, ich bin jemand mit guten Ideen, und auf diesem Weg sein positives Selbstbild stärken kann.

Auf dem Lernweg ermutigen

Ganz schön schwierig, wenn Dinge und das Lernen nicht so funktionieren, wie ich es mir denke. Können Sie sich selbst an einen solchen Moment zurückerinnern, Sie möchten z.B. etwas am Computer einrichten, wissen wie, aber es funktioniert so gar nicht. Kommt da Wut und Frustration auf?
Für diese Kinder gehören solche Erfahrungen im Bereich ihrer Lernschwierigkeiten zum Alltag. Oft werden sogar ihre Bemühungen und Anstrengungen, die sie zeigen, gar nicht gesehen. Das frustriert und entmutigt, daraus kann sich sogar vermeidendes Verhalten entwickeln. Ihr Dranbleiben und ihren Effort werden sie, neben einer passenden Begleitung, weiterhin auf ihrem Lernweg brauchen. Darum ist es so wichtig, diese Kinder zu ermutigen, ihre Bemühung und ihr Dranbleiben trotz intensiver Frustrationsgefühle wahrzunehmen und ihnen diese Beobachtungen, das «Ich nehme dich darin wahr», auch rückzumelden. Maria Aarts, die Gründerin der Marte Meo Methode, sagt, jedes Kind hat ein Anrecht auf ein nuanciertes Feedback. Das bedeutet ein differenziertes Verbalisieren von dem, was dem Kind gelingt, z.B. «Du denkst nach», «du bleibst dran auch, wenn es schwierig ist» oder «du bist ganz konzentriert». Diese hilfreichen Initiativen werden leicht zeitverzögert verbalisiert, nachdem das Kind eine solche Initiative gezeigt hat. Gerne neigt man zu gut gemeinten Rückmeldungen wie: «Ja super, du machst das sehr gut» oder hat den Blick nur auf ein richtiges oder falsches Resultat. Aber was heisst das konkret, du machst es gut? Mit einem nuancierten Feedback bekommt das Kind eine konkrete Rückmeldung, was es genau ist, was es tut und in welcher Weise es hilfreich für das Kind sein könnte.
Eine gute Atmosphäre, dazu gehören ein freundliches Gesicht und eine einladende Stimme, unterstützt Kinder besonders. Diese regt das Kind dazu an, das abrufen zu können, was es bereits weiss, und es wird auf diese Weise zur Kooperation eingeladen. Wie schön, wenn das Kind in ein ermutigendes Gesicht blickt und damit erfährt: Ich werde gesehen und bin auf einem guten Weg. In Videoaufnahmen ist immer wieder eindrucksvoll zu erkennen, wie wirkungsvoll ein freundlicher Gesichtsausdruck z.B. für Gefühlsregulierung und das Selbstvertrauen sein kann.

Mentorat Lernen
ist das gemeinsame Dach der Angebote von Schreibstrom und von Artcoaching Berweger. Wir unterstützen Kinder und Jugendliche dabei, ihren persönlichen und stärkenden Lernweg zu entdecken und ihr Potential zu entfalten. Die Thematik «Hohes Potential und Lernschwierigkeiten» ist ein Schwerpunkt in unserer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Begleitend dazu beraten wir Eltern und Lehrpersonen, damit das Lernen rundum gelingt.

Svenja Herrmann
Bei Schreibstrom findet die ganzheitliche Förderung des Lernens, der Begabungen, der Fantasie, der Schreibfähigkeit, des Sinns für Gemeinschaft und der Persönlichkeitsentwicklung unter Berücksichtigung von besonderen Lernbedürfnissen auf der Basis einer psychologisch gestützten Lernbegleitung statt. Dabei wird nach Bedarf das Lernumfeld mit einbezogen, da Lern- und Entwicklungsprozesse dynamische Vorgänge sind und mit der Umwelt in Wechselwirkung stehen. Zum Förderkonzept bei Schreibstrom mit seinem ganzheitlichen Ansatz.

Kathrin Berweger Konzelmann
Artcoaching Berweger begleitet Kinder und Jugendliche in ihren individuellen Projekten im Bereich Kunst und im visuell räumlichen Arbeiten. Begabtenförderung wird mit der entwicklungsorientierten Marte Meo Kommunikationsmethode kombiniert, so können Kinder und Jugendliche ihre personalen und sozialen Kompetenzen weiterentwickeln, ihr Selbstvertrauen und ihre Motivation werden gestärkt und das Lernen wirkt nachhaltig. Videobasierte Marte Meo Elterncoachings ermöglichen eine passende Begleitung bei unterschiedlichsten Fragestellungen. Mit den Selbstlernkursen zu Hochsensibilität, Perfektionismus und Mentoring für Kinder mit besonderes Förderbedürfnissen erhalten Sie Informationen zum Verständnis Ihres Kindes.

 

Quellen:

Baum, Susan, Schader, Robin, «Twice Exceptionality» – in zweifacher Hinsicht aussergewöhnlich, in: Müller-Oppliger, Victor, Weigand, Gabriele, Handbuch Begabung, Weinheim/Basel 2021.
Weiterführende Literatur zur Marte Meo Methode:
Aarts, M., Hawellek, C., Rausch H., Schneider, M. & Thelen, C. (2014)
Marte Meo, Eine Einladung zur Entwicklung, Aarts Production Verlag
Aarts, M. und Aarts, J., (2019): Das goldene Geschenk, Aarts Production Verlag

1 Baum, S., Schader, R., 2021, S. 558.
2 https://www.researchgate.net/publication/344491520_Meistern_statt_Maskieren_Lese-und Recht-Schreibstrategien_fur_mehrfach_aussergewohnliche_Kinder, S. 222ff.
3 Baum, S., Schader, R., 2021, S. 590
4 Baum, S., Schader, R., 2021, S. 591
5 Baum, S., Schader, R., 2021, S. 591
6 Baum, S., Schader, R., 2021, S. 592
7 Baum, S., Schader, R., 2021, S. 594
8 Baum, S., 2021, Powerpointpräsentation, 3. Schweizer Begabungskongress
9 Baum, S., Schader, R., 2021, S. 59

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