Gastbeiträge zu "ADHS/Lernstörungen"

Kinderbuch "Alle behindert!" - ein Blick hinter die Kulissen

"Alle behindert! 25 spannende und bekannte Beeinträchtigungen in Wort und Bild" - mit diesem frechen Titel eröffnen Monika Osberghaus und Horst Klein ihr Buch für Kinder ab 5 Jahren. Der Vater eines Sohnes mit Down-Syndrom möchte Augen und Herzen öffnen und vermitteln, was Kinder wirklich über Beeinträchtigungen wissen wollen. Im Interview lässt uns das Autorenteam teilhaben an der turbulenten Entwicklung des Buches und verrät, wie es mit den vielen kritischen Stimmen umgegangen ist...

Können Sie uns in drei Sätzen erklären, worum es im Buch «Alle behindert» geht?

In der Art von Freundschaftsbuch-Steckbriefen stellen wir 25 der gängigsten Behinderungen vor, und zwar mit den Informationen, die Kinder interessieren, und mit viel Humor. Das Besondere ist, dass wir den Begriff «Behinderung» eigenmächtig erweitert haben, so dass auch Kinder mit besonderen Verhaltensweisen (der Angeber, die Tussi, die Schüchterne, ja sogar der «Normalo») hier als behindert vorgestellt werden. Und damit natürlich auch jedes Kind, das das Buch betrachtet – es kann hinten seine eigene Seite mit seiner eigenen Behinderung ausfüllen. Dann weiß es wenigstens hinterher, was es bedeutet, wenn es Sätze sagt wie «Der ist ja voll behindert» oder «Guck mal, der Spast». Sorry, das sind jetzt vier Sätze – nee, schon fünf!

Wie entstand der Wunsch, ein Kinderbuch zum Thema «Beeinträchtigungen» zu schreiben?

Horst Klein: Ich habe einen behinderten Sohn mit Down-Syndrom, und plötzlich waren wir nicht auf der »normalen«, sondern auf der »anderen, der behinderten» Seite. Und schon sieht man die Unsicherheit und Angst, aber auch die Neugier der Kinder. Weniger in der Kita, aber spätestens in der Schule. Da war klar, dass ich ein Buch darüber machen wollte. Und zwar nicht ein Buch nur über das Down-Syndrom, sondern über viele, viele Behinderungen.

Monika Osberghaus: Ich habe in meinem Alltag überhaupt nichts mit Menschen mit Behinderung zu tun und empfinde das als Manko. Die Kinderbücher zum Thema waren mir immer ein bisschen zu korrekt und damit für Kinder zu brav, so dass wir im Verlag auch schon das Buch «Planet Willi» von Birte Müller herausgebracht haben, das ebenfalls einen etwas herausfordernden Ansatz hat. Dass ich jetzt als Co-Autorin auf dem Buch stehe, war Horsts Wunsch und kommt daher, dass ich mich inhaltlich viel mehr beteiligt und reingekniet habe als eine Lektorin das üblicherweise macht – schon alleine, um die Flut der Steckbriefe zu bewältigen, die wir von den vielen Kindern bekommen haben. Die Hauptarbeit auf allen Ebenen kommt aber von Horst.

Während der Recherche haben Sie mit vielen Familien gesprochen, die ein Kind mit einer Beeinträchtigung haben. Welche Momente haben Sie dabei besonders bewegt?

Hui, da musste man manchmal schon schlucken oder gar eine Träne wegdrücken. Es reicht ja schon, mal eine Förderschule zu besuchen und sich mit den Kindern – und ihrer Selbstreflexion, besonders wenn sie größer sind – zu befassen. Davon waren wir sehr beeindruckt. Trotz aller Schwierigkeiten gibt es in vielen Familien eine positive, mitreißende Kraft, eine solche Herausforderung anzunehmen. Das sind für uns wahre Helden. Es geht plötzlich nicht mehr darum, das Kind noch in diesen und jenen Musik- oder Sportkurs zu schicken oder um eine bessere Schulnote oder einen Abschluss zu kämpfen. Alles total unwichtig! Es geht hier um ganz elementare Dinge. Dies haben wir aus den Gesprächen und Steckbriefen direkt erfahren. Die Reaktionen der Kinder auf unsere Fragen und Horsts Bilder waren für unser Buch essenziell. Wir haben die Kinder anschließend vermisst.

Im Buch finden sich Beeinträchtigungen wie ein Down-Syndrom oder ADHS neben Beschreibungen wie Tussi oder Rüpel – getreu dem Titel «Alle behindert». Welche Überlegungen stecken dahinter?

Kinder haben den vorurteilsfreien Blick und stellen bei einem fremden Kind erstmal fest, dass das Kind irgendwie anders ist. Horst hörte bei seinem Sohn z.B. öfter die Frage: »Was spricht der für eine Sprache?« statt »Ist der behindert?«. Genauso wird ein Kind bei einem Rüpel erst einmal fragen: »Warum ist der so laut und sagt so verbotene Sachen?« Statt »Kommt der aus einer sozial benachteiligten Familie?« Alle Kinder sollen sich möglichst umfassend wiedererkennen: in den Antworten der Steckbrief-Kinder, aber eben auch mit eigenen Vorlieben, Abneigungen und Besonderheiten. Wir denken auch, dass wirklich jeder Mensch im Laufe seines Lebens irgendwo eine Hemmung, eine Versehrtheit erfährt und damit zurande kommen muss, dass nicht alles perfekt verläuft. Daher ist dies der Ansatz, erst einmal alle einzugemeinden und die Gemeinsamkeiten zu erkennen – daraus wächst dann bei Kindern, die sonst mit dem Thema gar nicht viel anfangen können, ein Interesse. Das war uns so wichtig, dass wir dafür die klare Schieflage der Gleichsetzung in Kauf nehmen, wenn wir einfach «alle» behindert nennen. Obwohl wir natürlich wissen, welche großen und schmerzhaften Unterschiede es gibt zwischen einer schweren Beeinträchtigung und einer veränderbaren Macke.

Für diese Idee gab es neben sehr viel positivem Echo auch einige Leser/innen mit beeinträchtigten Kindern, die sich nicht ernst genommen fühlten oder sich über diese Darstellung geärgert haben. In einer Rezension ist beispielsweis zu lesen: «Hier werden Beeinträchtigungen, die das Leben der Betroffenen ganz schön schwierig machen, fröhlich gemischt mit Charaktereigenschaften oder gar mit dem Fehlverhalten von Eltern.» Inwiefern kamen diese Rückmeldungen überraschend für Sie? Und welche Gefühle hat das bei Ihnen ausgelöst?

Alle behindertHost Klein: Ja, das tut mir tatsächlich etwas leid, denn wehtun möchte ich den Eltern nicht, die da teilweise eine wirklich große Verantwortung tragen und mitunter an ihre Grenzen kommen, und lustig machen möchte ich mich darüber auch nicht. Ich bin eigentlich einer von ihnen und habe das Buch ja für sie, und nicht gegen sie geschrieben. Der große Vorteil des Buches, diese unbekümmerte Vermischung, ist natürlich im Umkehrschluss auch eine Schwäche. Der im Buch vorkommende Humor, mitunter tottraurige Momente in Leichtigkeit zu packen, ist in meinen Augen aber auch eher ein Türöffner als ein Lustigmachen. Wir haben dann im Prozess festgestellt, dass wir es machen müssen, auch um eine Diskussion darüber loszutreten: Wo fängt denn überhaupt eine Behinderung an? Und ich stelle jetzt nach drei Auflagen und den sehr vielen positiven Resonanzen fest, dass es wohl funktioniert. Wenn Kinder das Buch in die Hand bekommen, sieht man, dass nach einer ersten Berührungsangst (der Titel!) ganz schnell der Forschergeist geweckt ist und sie sich sehr ins Buch vertiefen. Und wenn das dazu führt, dass mehr Miteinander und Toleranz stattfindet, statt dass sie auf dem Schulhof »Ey du Spasti!« rufen, ist doch was erreicht.

Monika Osberghaus: Wenn man unseren Grundansatz in seiner Unbekümmertheit nicht nachvollziehen mag, kann man dieses Buch nicht gut finden. Was mich kränkt, ist, wenn Menschen das Buch in Bausch und Bogen verdammen und aktiv dagegen arbeiten, nur weil ihnen dieser Ansatz nicht gefällt. Grundsätzlich mag ich aber, dass über das Buch geredet und gestritten wird. Ein Buch, das es allen recht gemacht hätte, wäre ein langweiliges Buch geworden, vor allem für die Kinder. Um die geht es uns ja zuallererst.

Auf dem Cover sagt ein Kind «Und du kommst auch drin vor!» mit einer Seite zum selbst ausfüllen. Wo findet Ihr euch wieder? Wie würdet ihr eure Beeinträchtigung beschreiben?

Monika Osberghaus: Ich finde mich wieder in der Tussi, dem dicken Jungen, der schüchternen Marta, dem Angeber ... Meine Behinderung: Ich komme aus einer fundamentalistisch-pietistischen Familie. Da habe ich einige Beeinträchtigungen davongetragen, z.B. kann ich nicht gut streiten, habe ständig wegen jedem Käse ein schlechtes Gewissen und bin misstrauisch, wenn ich mal pur vor mich hin glücklich bin. Da muss doch gleich eine Strafe kommen! Aber ich hab schon gut gelernt, mit dieser Behinderung umzugehen.

Host Klein: Also ich finde mich, auch wenn es heute wenige meinen, erst einmal auf der Seite der Schüchternen wieder. Wenn ich das hier live im Interview erzählen müsste, wäre ich sicher sehr nervös und hätte rote hektische Flecken ;-) Des weiteren, und das ist jetzt nur für die Kinder, die Erwachsenen müssen jetzt weglesen, popel ich bis heute ganz gerne. Ansonsten: ungeduldig, will immer ALLES, und zwar JETZT SOFORT! Das machen doch nur Kinder!

Vielen Dank für den spannenden Einblick!

 

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