Schafft mein Kind das Gymi?
Der Übertritt ins Gymnasium ist geschafft, das neue Schuljahr hat begonnen und erste Noten kommen nach Hause. Für viele Eltern ist diese Zeit mit Hoffnungen, aber auch Ängsten und Sorgen verbunden. Vielleicht wurde viel investiert, um das Kind für den Übertritt fit zu machen - und nun soll bitte, bitte alles gut funktionieren.
Dabei wäre es für alle Beteiligten, Eltern, Kinder und Lehrpersonen, einfacher, wenn wir den sorgenvollen Gedanken "wird mein Kind es schaffen?" durch eine viel wichtigere Frage ersetzen: "Passt das Gymnasium zu meinem Kind?"
Im Lerncoaching begegnen wir immer wieder Eltern, die sehr viel Druck aufsetzen. Dabei sieht dieser Druck gerade bei gebildeten Eltern heute ganz anders aus als früher. Sie schimpfen und strafen nicht, wenn Kinder mit schlechten Noten nach Hause kommen. Aber sie fiebern mit, leiden mit und geben ihrem Kind unbewusst das Gefühl, dass ihr Elternglück seinen Leistungen abhängt. Diese Eltern haben meist eine sehr enge und gute Beziehung zum Kind. Umso schlimmer ist es für das Kind, wenn es merkt, wie sehr die Eltern seinetwegen unter Druck stehen, wie viel Hilfe sie anbieten und dass sie manchmal fast den Tränen nahe sind, wenn es schulisch nicht klappt.
Oft sagen uns diese Familien "Wir machen gar keinen Druck." oder "wegen uns muss es nicht das Gymnasium sein." Wenn man die Kinder und Jugendlichen fragt, antworten sie ähnlich: "Meine Eltern machen mir keinen Druck." Auf die Frage, was wäre, wenn sie das Gymnasium nicht bestehen, kommen aber Antworten wie: "Meine Eltern haben so viel in mich investiert, ich möchte sie nicht enttäuschen."
Diese Eltern möchten für ihr Kind nur das Beste. Das Problem besteht darin, dass sie oft sehr genau zu wissen glauben, was das Beste ist - und dabei vergessen, ihr Kind in die Gleichung mit einzubeziehen.
"Mach Abitur (Matura), dann stehen dir alle Wege offen!"
Für viele Eltern, die selbst Akademiker sind, gibt es nur eine Möglichkeit: Das Kind soll Abitur machen. Dahinter steht der Wunsch, dem Kind eine erfolgreiche berufliche Zukunft zu ermöglichen. So hört man von Eltern immer wieder den Satz: "Mach Matura / Abitur, dann stehen dir alle Wege offen!"
Es ist wichtig, darüber nachzudenken, ob das stimmt.
In Seminaren mit Studierenden machen wir immer wieder die Erfahrung, dass der Besuch des Gymnasiums Jugendlichen auch Chancen verbauen kann. Diese Problematik ist Eltern jedoch fast nie bewusst, weil die Probleme erst viel später sichtbar werden. Dann, wenn es schon fast zu spät ist.
Tobias steht stellvertretend für viele Studierende, die uns im Lernccoaching begegnet sind. Seine Lehrerin sprach sich gegenüber den Eltern gegen einen Gymi-Übertritt aus. Die Eltern, beide Akademiker, konnten dies nicht akzeptieren. Dank intensiver Vorbereitung im Lernstudio schaffte Tobias die Aufnahmeprüfung. Die Eltern waren begeistert. Bald mussten sie aber merken, dass es ohne intensive Begleitung und regelmäßige Nachhilfe nicht geht.
Die Eltern machten sich Sorgen und betrieben einen enormen finanziellen Aufwand, um Tobias durchs Gymnasium zu kriegen. Ihr Sohn lernte - wenn auch oft unter Zwang - stundenlang und schaffte durch die intensive Unterstützung seines Umfelds die Matura (Abitur). Die Eltern waren erleichtert.
Nun war es soweit: Tobias hätten nun alle Wege offen gestanden.
Nur haben Tobias und seine Eltern bereits so viel in eine akademische Karriere investiert, dass für alle klar ist: Man macht doch nicht die Matura, um dann eine Lehre zu beginnen... Man studiert!
Tobias weiß nur nicht so recht, was. Schließlich raten ihm sein Vater und sein Onkel dazu, Rechtswissenschaften zu studieren.
Wir lernen Tobias schließlich in einem Kurs zum Thema Aufschieben für Studierende kennen.
Er ist zu diesem Zeitpunkt fast 30 Jahre alt und studiert seit 9 Jahren. Der junge Mann wirkt niedergeschlagen und es mangelt ihm an Selbstvertrauen. Die Prüfungen schafft er meist erst im zweiten Anlauf.
"Was interessiert dich denn an Rechtswissenschaften?" Daraufhin zuckt er energielos mit den Schultern. Er habe halt mal damit angefangen, jetzt könne er schlecht wieder damit aufhören. Auf die Frage, wo er sich nach dem Studium sieht, lächelt er nur müde: "Als Jurist oder Anwalt sehe ich mich jedenfalls nicht."
Tobias studiert deshalb weiter, weil er "damit angefangen und schon Jahre in dieses Studium reingebuttert hat" und er sich "wie der letzte Versager" vorkäme, wenn er jetzt abbricht. Die Beziehung zu seinen Eltern ist angespannt. Er war schon lange nicht mehr zu Hause, weil "es immer nur darum geht, dass ich immer noch nicht weiter bin."
Seine Eltern haben vieles ausprobiert, um ihrem Sohn zu helfen. Schließlich glaubte der Vater, dass mehr Druck nützen könnte. Mit dem Satz: "Ich bin nicht bereit, dich noch länger durchzufüttern, wir haben weiß Gott genug für dich getan!" Strich er ihm die finanzielle Unterstützung. Das war vor zwei Jahren. Seither arbeitet Tobias in einem Café als Kellner sowie Abends in einer Bar. Es gefällt ihm: "Endlich etwas Konkretes, bei dem ich weiß, was ich tun muss, und wobei ich mich wohl fühle." Für das Studium zu lernen fällt ihm allerdings immer schwerer.
Im Kurs lernt Tobias verschiedene Strategien kennen, um mit seiner "Aufschieberitis" umzugehen. Wir sprechen aber auch darüber, wie er sich insgesamt in seinem Leben fühlt. Einmal fällt der Satz: "Ich hätte nie studieren sollen, ich bin einfach nicht dafür gemacht!" Aber Tobias zieht es tatsächlich durch und schafft den Bachelorabschluss.
Es ist trotzdem keine Erfolgsstory. Er hat für den Bachelorabschluss neun Jahre gebraucht und diesen mit knapp genügenden Noten abgeschlossen. Als ich ihn ein halbes Jahr später im Supermarkt treffe, erzählt er, dass er rasch gemerkt hat, dass er sich "mit diesem Zeugnis nicht zu bewerben" brauche und fügt an, dass er ja auch niemanden einstellen würde, dem man auf den ersten Blick ansieht, dass ihn dieser ganze Jus-Kram sowieso nicht interessiert. Er jobbt noch immer im Café, aber es fühlt sich für ihn nicht richtig an - schließlich sei es "ja eigentlich nur als Studentenjob gedacht gewesen".
Theoretisch stünden Tobias noch immer alle Möglichkeiten offen. Er könnte sich in einem anderen Berufsfeld einen Job suchen oder eine Lehre beginnen. Doch die Realität sieht anders aus. Nach 23 Jahren Schule und Studium hat er das Gefühl, in einer Sackgasse zu stecken.
Sein Beispiel zeigt: es gibt nicht die "beste Schule" oder den "besten Abschluss", der garantiert, dass unsere Kinder und Jugendlichen später ein gutes Leben führen werden. Es gibt lediglich die "momentan am besten zum jeweiligen Kind passende" Schule oder Ausbildung. Doch wie findet man als Eltern heraus, wo sich das Kind wohlfühlt und gut entwickeln kann? Und wie soll man reagieren, wenn das Kind nach dem Übertritt schlechte Noten nach Hause bringt?
Schlechte Noten im Gymnasium: Was ist die Ursache?
Nach dem Übertritt ins Gymnasium verschlechtern sich die Noten bei vielen Lernenden massiv. Kein Wunder - sie sind nun in einer neuen Gruppe mit den jeweils stärkeren Schüler/innen aus verschiedenen Klassen. Was Ihr Kind jetzt braucht, ist eine offene Haltung.
Es könnte beispielsweise sein, dass Ihr Kind:
- nie gelernt hat, wie man lernt und daher nicht über geeignete Lernstrategien verfügt.
- gewohnt ist, dass es nicht lernen muss und die Anstrengung scheut.
- sich aufgrund von Prüfungsängsten nicht auf das Lernen einlassen kann und an Prüfungen Blackouts hat.
- überfordert und damit schlicht nicht am richtigen Ort ist.
Manche Kinder benötigen nur etwas Zeit
Viele Kinder, denen die Grundschule leicht fiel, haben nie gelernt, wie man lernt. Sie haben sich daran gewöhnt, dass sie ohne Anstrengung gute Leistungen erbringen können. Oft erleben diese Kinder beim Übertritt ins Gymnasium einen kleinen Schock: Plötzlich geht es nicht mehr von alleine. Alles, was sie benötigen, ist genau diese Rückmeldung. Sobald sie bemerkt haben, dass sie nun etwas tun müssen, richten sie sich neu aus: Sie fangen an, sich auf Prüfungen vorzubereiten und schreiben schon bald wieder bessere Zensuren.
Manchen Kindern fehlt es an Lernstrategien
Viele Schüler/innen nutzen "Lernstrategien", mit denen sie an weiterführenden Schulen zum Vornherein zum Scheitern verurteilt sind. So begegnen uns im Kurs Clever lernen immer wieder Jugendliche, die Texte lediglich mehrmals durchlesen und hoffen, dass dadurch "genügend hängen bleibt" oder die stupide "Zusammenfassungen" schreiben, die fast so detailliert ausfallen wie der Originaltext.
Andere Kinder lassen sich von den Tests aus der Bahn werfen. Sie werden bei der Vorbereitung von Ängsten abgelenkt, geraten in Prüfungen unter Druck und können sich daher kaum mehr auf die Aufgaben einlassen. Sie denken nicht mehr über die Prüfungsaufgabe nach, sondern darüber, was passieren würde, wenn sie eine schlechte Note erhalten. Diese Situation spitzt sich zu, wenn es für das Kind und die Eltern besonders wichtig ist, dass das Gymnasium unter allen Umständen bestanden wird.
Für all diese Kinder ist es wichtig, dass sie sich bessere Lernstrategien erarbeiten und lernen, mit Prüfungsängsten umzugehen. Zu beidem finden Sie klare Hilfestellungen in unserem Buch "Clever lernen". Das Buch richtet sich an Jugendliche ab ca. 11 bis 16 Jahren (mit einem Klick auf das Bild gelangen Sie zur Bestellmöglichkeit):
Es gibt aber immer wieder Kinder, bei denen deutlich wird, dass bessere Lernstrategien oder ein Training gegen Prüfungsängste nicht weiterhelfen, denn:
Für manche Kinder ist das Gymnasium schlicht die falsche Schule!
Im Laufe der Jahre sind uns immer wieder Kinder begegnet, die das Pensum eines Managers zu bewältigen haben: Schüler/innen, die jeweils bis spät in den Abend hinein lernen, am Wochenende gemeinsam mit den Eltern über den Büchern sitzen und in den Ferien ins Lernstudio müssen, um "Verpasstes aufzuholen".
Manchen Eltern ist das Gymnasium so wichtig, dass sie blind werden für die Bedürfnisse ihres Kindes. Alles wird dem Ziel untergeordnet, das Kind an dieser Schule zu halten - teilweise bis zum Burnout. Oft finden wir bei diesen Eltern etwas, das wir als Machbarkeitsphantasien bezeichnen: Der Glaube, dass alles möglich ist, wenn man nur die richtige Lösung findet, das Kind nur genügend fördert oder sich das Kind nur ausreichend anstrengt.
Diese Eltern möchten ihrem Kind später ein gutes Leben ermöglichen und vergessen, dass dazu vor allem eines nötig ist: Eine Kindheit und Jugend, auf die es später gerne zurückblickt.
Zwei Faktoren müssen Sie als Eltern nach dem Übertritt unbedingt im Auge behalten: Das Arbeitspensum Ihres Kindes und die Gefühle, die es während des Lernens empfindet.
Manche Kinder lernen einfach gerne und viel. Sie möchten alles genau wissen, sind interessiert und freuen sich über gute Noten. So lange es dem Kind dabei gut geht, ist nichts dagegen einzuwenden.
Problematisch wird es, wenn das Kind ständig das Gefühl hat, um seinen Platz kämpfen zu müssen und sich trotz großer Anstrengungen und vieler Hilfe nur gerade knapp im Gymi halten kann. Diese Kinder und Jugendlichen fühlen sich ständig bedroht und bauen die Überzeugung auf, den Erwartungen nicht zu genügen. Mit der Zeit leidet das Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl. Manche entwickeln psychische oder psychosomatische Symptome: Sie können nicht mehr schlafen, haben keinen Appetit mehr, leiden unter Kopfschmerzen, Bauchweh oder Verspannungen, ziehen sich zurück, wirken antriebslos, gestresst oder traurig.
Vielfach wären diese Jugendlichen sehr talentiert. Vielleicht sind sie künstlerisch begabt, wären gute Verkäufer oder Handwerker, stecken aber in einer Schule fest, die auf diese Begabungen wenig Wert legt. Stattdessen werden sie jahrlang gezwungen, auf ihrem lahmen Bein zu gehen. Oft wissen sie am Ende ihrer Schulzeit nur, was sie nicht mehr wollen und haben keine Ahnung, wer sie sind, was sie gerne tun, gut können und wo sie hin möchten.
Man darf von Kindern und Jugendlichen erwarten, dass sie sich Mühe geben. Und es darf auch im Leben von Jugendlichen stressige Phasen geben. So erläutern wir Lernenden immer wieder in Workshops oder Coachings, dass sie für den Lehrabschluss zwei, drei Monate zurückstecken und am Wochenende lernen müssen.
Aber Überforderung darf nicht zum Dauerzustand werden. Wenn Sie merken, dass Ihr Kind leidet, weil es ständig am Limit ist, müssen (!) Sie als Eltern verantwortlich handeln und die Notbremse ziehen. Das gilt auch dann, wenn Ihr Kind den Leistungsgedanken bereits so verinnerlicht hat, dass es selbst nicht bereit ist, die Schule zu wechseln.
Wir durften einige Male erleben, wie es Eltern gelungen ist, ihre eigenen Ansprüche zu reflektieren und ihr Kind wirklich wahrzunehmen - mit all dem Druck und all der Angst, die es schon viel zu lange aushalten musste.
Für manche Eltern war es schwer, sich darauf einzulassen. Sie hatten ein Lerncoaching gebucht, weil sie wollten, dass ihr Kind besser in der Schule wird - und sahen sich plötzlich damit konfrontiert, an sich selbst arbeiten zu müssen. Das ist nicht immer leicht. Manchmal müssen sich Eltern in diesem Prozess von Wunschvorstellungen verabschieden, ihr Kind neu kennenlernen und teilweise darum trauern, dass der Weg, den sie für das Kind vorgesehen hatten, nicht möglich ist. Wir rechnen es diesen Eltern hoch an, dass sie erkannt haben: Ich muss mich ändern, ich muss an mir arbeiten - nicht das Kind.