Konzentration und Aufmerksamkeit fördern

Was wir über Konzentration und Aufmerksamkeit wissen müssen

Aufmerksamkeit – was ist das eigentlich?
Aufmerksamkeit ist eine Fähigkeit. Wie gut sich diese Fähigkeit entwickelt, hängt einerseits von bestimmten Genen ab, aber auch  von Erfahrungen und der Lerngeschichte des Menschen. Wenn diese Fähigkeit gut ausgebildet ist, gelingt es uns besser:

  • einzelne Reize aus der Umwelt zu filtern
  • uns bestimmten Dingen oder Inhalten zuzuwenden
  • Ablenkungen auszublenden.

Aufmerksamkeit und Konzentration: ein und dasselbe?

Konzentration ist nur ein Teilbereich von Aufmerksamkeit. Konzentriert ist, wer sich über einen längeren Zeitraum auf eine begrenzte Aufgabe oder einen Gegenstand fokussieren kann. Im Großraumbüro konzentrieren wir uns so gut wie möglich auf den Projektantrag, den wir prüfen möchten, und versuchen dabei, uns nicht von den Gesprächen, klingelnden Telefonen und vorbeilaufenden Arbeitskollegen ablenken zu lassen. Ein Grundschulkind am Schreibtisch vertieft sich ganz in das Rechenblatt und widersteht dabei dem Wunsch, mit den Spielsachen zu spielen, die überall in seinem Zimmer verteilt sind und ihm ins Auge stechen. Diese Form der Aufmerksamkeit hat in den letzten Jahren massiv an Bedeutung gewonnen. Ablenkungen lauern überall. Die Fähigkeit, den eigenen Fokus bewusst zu steuern, nicht ständig zwischen Tätigkeiten hin- und her zu hüpfen und sich nicht dauernd unterbrechen zu lassen, ist in unserer hektischen, modernen Welt unerlässlich geworden.

Gleichzeitig ist ein anderer Bereich von Aufmerksamkeit in den Hintergrund gerückt: die Vigilanz, auch allgemeine Wachsamkeit genannt. Gemeint ist die Bereitschaft, genau wahrzunehmen und prompt zu reagieren. Diese Form der Aufmerksamkeit war in früheren Zeiten überlebenswichtig: als Jäger und Sammler galt es, stets auf der Hut zu sein – Vorteile hatte, wem jedes Rascheln im Gebüsch, jede Bewegung im Augenwinkel, jede verwischte Fährte im Wald auffiel. Mithilfe der Vigilanz gelang es unseren Vorfahren, Beutetiere aufzuspüren und nahenden Feinden rechtzeitig die Stirn zu bieten.

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Kinder mit klassischen Aufmerksamkeitsproblemen sind oftmals besonders vigilant: sie sind sehr reizoffen – egal ob Bilder, Geräusche oder Gerüche; alle Eindrücke werden aufgesaugt wie ein trockener Schwamm. Gleichzeitig haben sie oftmals Mühe mit der Konzentration: ihr Fokus lässt sich vom Geschehen treiben und verlagert sich dorthin, „wo etwas los ist“. Aufgaben können kaum zu Ende gebracht werden, weil mit allen Ablenkungen mitgeschwungen wird.

Welche Faktoren beeinflussen die Aufmerksamkeitsleistung?

Viele Forscher/innen gehen der Frage nach, welche Bedingungen die Aufmerksamkeit beeinflussen. Typischerweise zollen wir Menschen großen, farbigen Reizen, die sich bewegen mehr Beachtung. Dies erklärt auch, warum bereits Babys wie hypnotisiert an einem laufenden Fernseher kleben. Auch Dingen, die neu für uns sind, uns persönlich betreffen oder emotional anrühren, wenden wir uns eher zu. Vielleicht verfolgen auch Sie manchmal gebannt die rührseligen Bilder, Werbevideos und Geschichten, die auf Facebook & Co. kursieren. Zuletzt orientieren wir uns an unseren Mitmenschen: So fokussieren wir eher auf Geschehnisse, Bilder oder Inhalte, die von anderen mit Neugier aufgenommen werden. Man denke hierbei an die kilometerlangen „Gaffer-Schlangen“ nach Unfällen auf der Autobahn.

Auf der anderen Seite fällt es uns schwerer, uns zu fokussieren, wenn das Material nicht interessant ist oder zu viele Reize auf einmal auf uns einströmen. Nachteilig wirken sich auch emotionale Ablenkungen aus, beispielsweise ein laufender TV oder eine Radiosendung, Textnachrichten, Gespräche im Nebenraum oder Gegenstände, die in uns den Wunsch auslösen, zu spielen oder etwas anderes zu tun. Auch Müdigkeit, Hunger oder Übersättigung und körperlichen Bedingungen (hormonelle Schwankungen, Mangelzustände, Verletzungen des Nervensystems) wird ein negativer Effekt zugeschrieben. Zudem konnte die klinische Psychologie nachweisen, dass Einschränkungen in der Aufmerksamkeitsleistung sich auch bei psychischen Beeinträchtigungen erkennen lassen, z.B. bei Dauerstress, ADHS, Depressionen oder Ängsten.

Aufmerksamkeit – ein Zusammenspiel mehrerer Gehirnnetzwerke

Das menschliche Gehirn verfügt über drei große Aufmerksamkeitssysteme bzw. –netzwerke, die jeweils für unterschiedliche Aufgaben zuständig sind (z.B. Petersen & Posner, 2012).

Sehen wir uns die drei Aufmerksamkeitsnetzwerke im Detail an:

  1. Das „Alerting“-Netzwerk
  2. Das Orientierungsnetzwerk
  3. Die exekutive Kontrolle

Wie Sie im Laufe dieses Artikels lesen werden, sind Auffälligkeiten in diesen Netzwerken mit spezifischen Aufmerksamkeitsproblemen verbunden.

„Ich bin wach und bereit!“ - Das Alerting-Netzwerk

Das sogenannte „Alerting“-Netzwerk hat die Aufgabe, uns Menschen dauerhaft in einem wachen, geistig offenen, konzentrierten Zustand zu halten. Es bereitet den Körper darauf vor, Informationen aufzunehmen und Warnsignale frühzeitig auszumachen. Wir können uns dieses Netzwerk wie einen großen Radarschirm vorstellen, der Eindrücke aus der Umgebung einfängt. Interessanterweise zeigt die Forschung, dass dieser Radarschirm offenbar einem gewissen Arbeitsplan folgt. Denn wie gut dieser funktioniert, hängt auch von der Tageszeit ab. Am frühen Morgen und am späten Abend bzw. in der Nacht kommt es zu verzögerten Reaktionszeiten. In diesen Phasen passieren auch deutlich öfter Verkehrs- oder Arbeitsunfälle – Momente der Unachtsamkeit nehmen zu. Aber nicht nur die Tageszeit, sondern auch Ängste und Stress können dem Alerting-Netzwerk einen Strich durch die Rechnung machen (z.B. Pilar Pacheco-Unguetti et al. 2010), wie das folgende Beispiel zeigt:

(Hinweis für Fachpersonen: Ein Blick ins Gehirn zeigt, dass das Alerting-Netzwerk vorwiegend durch den Botenstoff Noradrenalin moduliert wird. Involvierte Hirnbereiche sind der Locus Coeruleus, der frontale Cortex, parietale Bereiche, der rechte cerebrale Kortex sowie der Thalamus.)

Sina kann nicht lernen

Sina wird von ihren Eltern als ein fröhliches, gesprächiges, zugewandtes Kind beschrieben. Seit Beginn des neuen Schuljahres ist das Mädchen jedoch wie ausgewechselt: sorgenvoll beobachten die Eltern, wie sich ihre Tochter mehr und mehr zurückzieht und kaum mehr ein Wort redet. Sina hütet ein Geheimnis: sie wird in der Schule gemobbt. Fast jede ihrer Wortmeldungen quittieren die Mitschüler/innen mit einem fiesen Kommentar oder hämischen Lachen. Auch die Pausen sind zur Tortur geworden - Sina bleibt nichts anderes übrig, als sich auf dem WC zu verstecken. Durch viele Übergriffe gezeichnet achtet Sina mittlerweile penibel darauf, ihren Nachhauseweg so zu organisieren, dass sie ihren Widersachern ja nicht über den Weg läuft. Die Schule ist kein sicherer Ort mehr. Die tägliche Angst vor neuen Übergriffen bestimmt ihren Alltag. Angetrieben von dieser Angst arbeitet ihr innerer Radarschirm unter Hochdruck. Jedes Gemurmel im Klassenzimmer, jede Gesichtsregung eines Mitschülers, jede Bewegung hinter ihrem Rücken wird angstvoll registriert. Das Ziel: nicht eiskalt überrascht zu werden. Sinas Körper befindet sich im Überlebensmodus, ihr „Alerting-Netzwerk“ arbeitet ohne Unterlass. Es sucht die Umwelt permanent nach möglichen Gefahrenquellen ab. In diesem Zustand wird es für Sina unmöglich, die Inhalte des Unterrichts aufzunehmen und sich mit dem Stoff auseinanderzusetzen.

Kinder mobbing

Solange die Schule kein sicherer Ort für Sina ist, wird sich ihr Gehirn in andauernder Alarmbereitschaft befinden. In diesem Notfallmodus wird ihr Geist von allem in Beschlag genommen, das prinzipiell auf eine Gefahr hindeuten könnte (jeder Blick, jedes Räuspern, jede Bewegung der Klassenkameraden). Daher bekommt sie kaum mehr etwas vom Unterricht mit, die Noten gehen in den Keller. Aber Sina benötigt keine Nachhilfe, kein Lerncoaching und kein Verhaltenstraining. Sie benötigt eine Schule, die Verantwortung übernimmt, das Mobbing auflöst  und die Klasse zu einem Ort zu macht, an dem sich alle Schüler/innen angstfrei bewegen können. Denn nur wenn sich Sina sicher fühlt, kann sie sich wieder auf den Unterricht konzentrieren. Nur dann wird das Gehirn in einen aufnahmebereiten Zustand versetzt. Kurzum: Ihr Radarschirm braucht die Rückversicherung, dass keine Gefahr mehr droht und er sich „guten Gewissens“ wieder inhaltlichen Belangen zuwenden kann.

„Was ist denn hier los?!“- Das Orientierungsnetzwerk

Das Orientierungsnetzwerk organisiert alle Informationen, die über unsere Sinneskanäle auf uns einströmen. Blitzschnell nimmt es eine erste Bewertung vor: „Wo kommt der Reiz her? Handelt es sich um ein Bild, ein Geräusch, eine Körperempfindung, einen Geruch oder Geschmack? Ist diese Information wichtig oder unwichtig? Soll ich mich ihr zuwenden?“ Diese Bewertung läuft unbewusst und innert Sekundenbruchteilen ab. Vielleicht erinnern Sie sich an einen Moment, in dem Sie ein lautes Geräusch hörten und sich beinahe instinktiv umdrehten, um nachzusehen, was los ist. Dies ist eine typische Reaktion, die vom Orientierungsnetzwerk gesteuert wird. Es entscheidet also mitunter darüber, wohin sich unser Aufmerksamkeitsfokus verschiebt.

(Hinweis für Fachpersonen: Das Orientierungsnetzwerk wird hauptsächlich über den Botenstoff Acetylcholin gesteuert. Beteiligt sind cholinerge Systeme, die ihren Ursprung im basalen Vorderhirn haben sowie parietale Bereiche).

Sandra vermasselt die Mathe-Prüfung

Nach einer Lehre und mehreren Berufsjahren als Altenpflegerin konzentrierte sich Sandra vollends auf ihre beiden Kinder. Nun, da ihre Töchter flügge geworden waren, flackerte in ihr der langgehegte Wunsch auf, auf ihre „alten Tage“ (wie sie es selbst nannte) noch zu studieren. Bereits im ersten Studienjahr suchte Sandra aufgrund massiver Prüfungsängste einen Lerncoach auf. Die Statistikprüfungen machten ihr das Leben schwer. Schon Wochen vor den Klausuren fühlte sie sich wie gelähmt. Die Angst kroch ihr in die Glieder, sie kam sich „alt, dumm und überfordert“ vor und an der Prüfung selbst „ging gar nichts mehr“. Unter deutlicher Anspannung erzählte sie, wie ihr Sorgenkarussell kaum jemals still steht: „Was ist, wenn ich durchfalle? Was ist, wenn mir plötzlich nichts mehr einfällt? Bist du eigentlich dumm, wieso kapierst du das denn nicht?! Jetzt konzentriere dich endlich!“

Sandra selbst bezeichnete die Angst vor Mathematik als ihren „wohlbekannten Begleiter“. Schon in der Schule war das Rechnen ihr Problem- und Panikfach gewesen. Die leistungsorientierte, strenge Mutter habe oft stundenlang mit ihr gelernt, bei schlechten Noten gab es nicht selten Schimpftiraden und eine Ohrfeige. Noch jetzt, viele Jahre später, zuckt Sandra zusammen, wenn sie diese Erlebnisse schildert.

An der Universität setzen sich die Prüfungsschwierigkeiten fort. Das Austeilen der Prüfungsbögen, das Rascheln der Blätter beim Umdrehen, das Knirschen der Kugelschreiber von fleißig schreibenden Kommilitonen erinnern sie an früher, an ihr Versagen, ihre Unzulänglichkeit. Ihr Herz hämmert wie verrückt, die Hände zittern, am ganzen Körper bricht ihr der Schweiß aus. Ihre Gedanken an das Versagen und ihre Körperempfindungen drängen sich derart in den Fokus, dass Sandra kaum mehr zur Prüfung vordringen kann. So mit sich selbst beschäftigt gelingt es ihr schlichtweg nicht mehr, die Aufgabenstellungen in Ruhe zu lesen und einen Lösungsweg abzuleiten. Sandras Alerting- und Orientierungsnetzwerk laufen auf Hochtouren. Sie fühlt sich gestresst und angespannt. Ihr Fokus richtet sich unbewusst und blitzschnell auf ihre Körperempfindungen. Die kreisenden Gedanken, das pochende Herz, die zitternden Hände werden als störend empfunden. Kognitive Kapazität, um eine Rechenaufgabe zu lösen, ist kaum noch vorhanden.

Im Lerncoaching geht es auch darum, Sandra aus dem „Notfallmodus“ herauszuführen und sie trotz Angst wieder handlungsfähig zu machen. In einem ersten Schritt setzt sich Sandra mit ihren Ängsten auseinander. Die körperlichen Symptome stehen dabei im Zentrum. Gemeinsam mit dem Lerncoach erarbeitet Sandra, welchen Nutzen Ängste haben und welche körperlichen Reaktionen normal sind. Nach und nach gelingt es Sandra, ihre Körperempfindungen anders einzuordnen und sich davon nicht sofort verrückt machen zu lassen. Während sie früher oftmals dachte „Oh Gott, mein Herz rast wie verrückt. Ich falle gleich um!“, konnte sie sich nun sagen „Ja, du bist nervös, dein Herz klopft auch. Das ist o.k., das gehört dazu.“ Auch die blockierenden Gedanken wie „Was ist, wenn ich es nicht schaffe?!“ werden genauer unter die Lupe genommen. Angeleitet durch den Lerncoach beginnt Sandra, Überzeugungen, die ihre Ängste nähren, zu hinterfragen. Gleichzeitig lernt sie, freundlicher und ermutigender mit sich selbst umzugehen. Mit einer Reihe von Vorstellungsübungen wird schließlich die Bewältigung der Prüfungssituation trainiert. Mit zunehmender Übung merkt Sandra, wie ihre Ängste abnehmen. Es tritt ein Gewöhnungseffekt ein. Im Verlauf des Lerncoachings löst der Gedanke an die Prüfungssituation bereits deutlich weniger Nervosität aus. Sandra kann sich dadurch besser auf das Lernen konzentrieren und ihr Wissen in der Prüfung besser abrufen. Diese Kombination aus Entspannung, Neubewertung und Gewöhnung eignet sich dazu, die Aktivität des Alerting- und Orientierungsnetzwerks zu regulieren. Vereinfacht gesagt wird das Gehirn dabei unterstützt, die unbewusste Frage: „Was ist los?! Ist das gefährlich?!“ seltener zu stellen und wenn eine ruhestiftende Antwort bereit zu haben.

„Alles nach Plan!“ - Die Exekutive Kontrolle

Würden wir alle Eindrücke ungefiltert verarbeiten und darauf reagieren, wäre unser Gehirn völlig überlastet. Damit dies nicht geschieht, hat uns die Natur mit einem Netzwerk ausgestattet, das Prioritäten setzt und zwischen verschiedenen Hirnbereichen vermittelt. Das Netzwerk der exekutiven Kontrolle kommt nämlich immer dann zum Zug, wenn ein Reiz die Bewusstseinsschwelle übersteigt. Es hilft uns dabei, Ablenkendes bewusst auszublenden und die Aufmerksamkeit willentlich zu lenken. Dieses Aufmerksamkeitssystem ist zudem für das Kurzzeitgedächtnis, das Schmieden von Plänen, für Aufgabenwechsel und Flexibilität im Denken und Handeln verantwortlich.

(Hinweis für Fachpersonen: Die exekutive Kontrolle entwickelt sich stark von der Babyzeit über die Kindheit hinweg. So können Gedanken, Gefühle und das eigene Verhalten immer besser wahrgenommen und gesteuert werden. Kennzeichnend für dieses Netzwerk sind die Botenstoffe Dopamin und Serotonin. Zu den involvierten Hirnarealen gehören der anteriore cinguläre Cortex, der laterale präfrontale Kortex sowie die Basalganglien.)

Ramon ist chaotisch

Ramon besucht die fünfte Klasse. Bereits im Kindergarten war er durch seine verträumte, chaotische Art aufgefallen. Lange Zeit bereitete es ihm große Schwierigkeiten, Handlungsabläufe zu lernen. Während sein jüngerer Bruder sich bereits selbstständig anziehen, waschen, kämmen und die Zähne putzen konnte, brauchte Ramon dafür die ständige Begleitung von Mutter oder Vater. Ließ man ihn damit alleine, saß er überfordert vor dem Berg von Kleidungsstücken oder spielte gedankenverloren mit dem Wasserhahn und der Zahnpastatube. Trotz der konsequenten Haltung der Eltern gleicht das Kinderzimmer innert kürzester Zeit wieder einem Schlachtfeld. Auch die Lehrpersonen melden zurück, dass Ramon Schwierigkeiten mit der Organisation hat. Er vergesse häufig die Hausaufgaben, verliere Schulbücher und Materialien und könne sich nur schwer an Abgabetermine halten. Auch bei relativ einfachen Aufgaben hat er Mühe, Prioritäten zu setzen und zu entscheiden, was er zuerst und was er später erledigen möchte. Oftmals fühlt er sich im Alltag „völlig erschlagen“ und zieht sich in seine Traumwelt zurück.

In der vierten Klasse wurde bei Ramon eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung vom unaufmerksamen Typ diagnostiziert. Die Forschung zeigt, dass diese Kinder besonders häufig mit Einschränkungen in der exekutiven Kontrolle zu kämpfen haben. Typischerweise gelingt es ihnen schlechter als Gleichaltrigen:

  • Die Aufmerksamkeit bewusst zu steuern
  • Unwichtiges auszublenden
  • Informationen im Kurzzeitgedächtnis zu behalten
  • Prioritäten zu setzen und Pläne zu schmieden
  • Handlungsabsichten zu formulieren und Zwischenschritte abzuleiten
  • Von einer Aufgabe zur nächsten zu wechseln
  • Sich flexibel auf Planänderungen und Zusatzinformationen einzustellen

Die wissenschaftliche Forschung konnte nachweisen, dass Hirnbereiche und Netzwerke, die an der exekutiven Kontrolle beteiligt sind, bei Kindern mit ADHS in ihrer Entwicklung verzögert, weniger aktiv und schlechter durchblutet sind (für einen detaillierten Überblick siehe Rietzler & Grolimund, 2016).

Da es Ramon besonders schwer fällt, sich selbst Struktur zu geben, ist er auf ein Umfeld angewiesen, das ihn in diesem Bereich unterstützt. Hilfreich sind Maßnahmen, die die exekutive Kontrolle entlasten und gleichzeitig trainieren. In einem Elternratgeber haben Ramons Eltern unter anderem die folgenden Tipps erhalten:

  1. Reduzieren Sie Ablenkungen.
  2. Führen Sie Abläufe wie „Schulranzen packen“, „sich selbst anziehen“, „Zimmer aufräumen“ schrittweise ein und nutzen Sie Visualisierungen, z.B. bebilderte Checklisten.
  3. Bitten Sie Ihr Kind vor dem Einschlafen, sich wichtige Abläufe bildlich vorzustellen als würde es einen Film ansehen.
  4. Weisen Sie Aufgaben ein begrenztes Zeitbudget zu und stellen Sie dieses visuell dar, z.B. mittels Timetimer.
  5. Führen Sie einfache Organisationssysteme ein, z.B. verschiedene Rollkisten für Spielsachen und Schulmaterial oder ein Farbsystem für die verschiedenen Schulfächer.
  6. Helfen Sie Ihrem Kind, das Arbeitsgedächtnis zu entlasten, indem Aufgaben und Termine aufgeschrieben, abfotografiert bzw. ins Handy einprogrammiert werden.
  7. Planen Sie gemeinsam mit Ihrem Kind und zerlegen Sie die Aufgaben in überschaubare Teilschritte.
  8. Kündigen Sie Aufgabenwechsel frühzeitig an („Du darfst noch 3 mal rutschen, dann gehen wir nach Hause“).
  9. Sorgen Sie für genügend stressfreie Erholungsräume.

Lässt sich Aufmerksamkeit trainieren?

Verschiedene Studien weisen darauf hin, dass sich insbesondere das System der Exekutiven Kontrolle trainieren lässt. So scheinen bestimmte Formen der Meditation die exekutive Aufmerksamkeitsleistung zu verbessern und für eine optimalere Vernetzung der beteiligten Hirnbereiche zu sorgen (Tang et al. 2007, 2009).

Offenbar wirken sich auch Übungen für das Arbeitsgedächtnis günstig aus (z.B. Klingberg et al., 2012; Olesen et al., 2004). Diese können im Alltag mit Kindern auch spielerisch gestaltet werden.

Bei Spielen wie „Memory“ oder „der Plumpssack geht um“ üben Kinder beispielsweise, sich die Lage mehrerer Bildkarten einzuprägen und im richtigen Moment abzurufen. Zum konzentrierten Zuhören und Abspeichern von mündlich vorgegebenen Informationen eignen sich Spiele wie „Ich packe meinen Koffer“ oder „Simon sagt“. Bei Letzterem werden abwechselnd immer längere Aufgaben gestellt, z.B. „Berühre mit den Händen deine Zehen, dann gehe zur Tür und mache sie auf, dann hüpfe dreimal auf der Stelle.“ Diese Aufforderung darf aber nur ausgeführt werden, wenn der Satz mit „Simon sagt:“ begonnen wird. Für jede korrekt ausgeführte Spielfolge erhält der Spieler einen Punkt. Wird das Kommando ausgeführt, obwohl „Simon sagt“ fehlt oder wird es falsch umgesetzt, gibt es einen Minuspunkt. Nach jeder Runde werden die Rollen gewechselt. So gibt immer abwechselnd jemand die Kommandos und der andere / die Gruppe führt diese aus.

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Stefanie Rietzler ist Psychologin und leitet die Akademie für Lerncoaching gemeinsam mit ihrem Kollegen Fabian Grolimund. Das Experten-Team führt Seminare für ElternWeiterbildungen für Fachpersonen sowie Vorträge an Schulen rund um das Thema Lernen durch. Die beiden verbindet eine große Begeisterung und Leidenschaft für das Schreiben von Büchern.

Akademie für Lerncoaching
Albulastrasse 57
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