Lesen und Rechtschreiben lernen - auf die richtige Förderung kommt es an: Interview mit Dr. Gero Tacke
Im Interview mit dem Schulpsychologen und Autoren Dr. Gero Tacke über die scheinbar schwindenden Rechtschreibfertigkeiten der Jugend, über die Bedeutung von Drill im Schreibunterricht und die umstrittene Methode des Lesens durch Schreibens...
Stefanie Rietzler: Herr Dr. Tacke, viele Eltern und Fachpersonen beklagen, dass kaum ein junger Mensch heute mehr korrekt schreiben kann. Wie ordnen Sie diese Aussage ein?
Dr. Gero Tacke: Im Jahre 2009 hat Steinig eine viel beachtete Studie vorgelegt, nach der die Rechtschreibung zwischen 1972 und 2002 dramatisch abgenommen hat. Bedauerlicherweise weist die Arbeit erhebliche Mängel auf, sodass kaum Schlussfolgerungen aus ihr gezogen werden können. Weitere Studien deuten eher darauf hin, dass die Rechtschreibung – wenn überhaupt – lediglich geringfügig abgenommen hat.
Stefanie Rietzler: Können Sie für unsere Leser zusammenfassen, wovon es abhängt, ob ein Kind gut lesen und rechtschreiben lernt?
Dr. Gero Tacke: Es gibt eine Vielzahl von Ursachen. Eine wichtige Rolle spielen der soziale Hintergrund und der schulische Unterricht. Aber auch genetische Faktoren beeinflussen das Lesen- und Schreibenlernen. Im kognitiven Bereich liegen die Ursachen einer Lese- Rechtschreibschwäche in bestimmten Merkmalen des Gedächtnisses. Die allgemeine Intelligenz ist ebenfalls beteiligt.
Bei der Angabe von Ursachen muss man beachten, dass die einschlägigen Studien allgemeine Tendenzen aufzeigen. Das bedeutet, dass es auch immer eine nicht unerhebliche Anzahl von Ausnahmen gibt.
Stefanie Rietzler: Viele Eltern schlagen Alarm, dass Kinder immer früher den Leistungsdruck der Gesellschaft zu spüren bekommen. Um die Kinder fit für die Schule zu machen, werden mitunter bereits im Kindergarten Förderprogramme eingesetzt oder zu Hause das Lesen und Schreiben geübt. Ist dies aus Ihrer Sicht sinnvoll?
Dr. Gero Tacke: Generell sollte man natürlich alles vermeiden, was die Kinder unter Leistungsdruck setzt. Vor allem sollte man keine Leistungen erwarten oder fordern, die die Kinder nicht erbringen können.
In den 1990er Jahren ist das Konzept der sogenannten Phonologischen Bewusstheit aufgekommen. Damit ist die Fähigkeit gemeint, Elemente der gesprochenen Sprache unterhalb der Wortebene zu erkennen und mit ihnen umzugehen. Verschiedene Studien haben zunächst gezeigt, dass ein Kindergartentraining der phonologischen Bewusstheit das spätere Lesen- und Schreibenlernen erleichtert. Neuere Studien zeigen jedoch, dass ein geeigneter Anfangsunterricht in der Schule ein Kindergartentraining überflüssig macht.
Stefanie Rietzler: Welche Bedeutung messen Sie der Schule, welche dem Elternhaus bei, wenn es um den Lese- und Rechtschreiberwerb geht?
Dr. Gero Tacke: Eine ausgeprägte Lese- Rechtschreibschwäche kann durch schulische Fördermaßnahmen allein aus zeitlichen Gründen nur unzureichend verbessert werden. Insofern kommt außerschulischen Maßnahmen eine besondere Bedeutung zu. Wenn sie von den Eltern nicht geleistet werden können, müssen andere Möglichkeiten gesucht werden. Gute Erfahrungen habe ich mit Lesepatenschaften gemacht, bei denen betroffene Schüler mit ehrenamtlichen Paten das Lesen üben.
Stefanie Rietzler: Wenn ich an meine eigene Schulzeit zurückdenke, erinnere ich mich an unzählige Lektionen, während derer dieselben Wörter hunderte Male in ein Schreibheft übertragen werden mussten. Mir scheint, dass derartiger „Drill“ heute eher verpönt ist. Welche Entwicklungen beobachten Sie und wie stehen Sie zu diesen?
Dr. Gero Tacke: Dasselbe Wort immer wieder zu schreiben, führt bei den Schülern nicht nur zu Überdruss. Es ist im Hinblick auf das Lernen auch reichlich sinnlos.
Ohne ein gewisses Ausmaß an “Drill”, wie Sie es nennen, kann man sich die Schriftsprache jedoch nicht aneignen. Das gilt vor allem für lese- rechtschreibschwache Schüler/innen. Es kommt aber darauf an, diesen „Drill“ so zu gestalten, dass er zu Leistungsverbesserungen führt und für die Kinder nicht zu einem Alptraum wird.
Stefanie Rietzler: In der Schweiz und in Deutschland wird vielfach die Methode „Lesen durch Schreiben“ eingesetzt. Der Widerstand ist groß. Viele Eltern und Fachpersonen kritisieren, dass sich Kinder falsche Schriftbilder einprägen könnten, wenn sie in den ersten Jahren ausschließlich lautgetreu schreiben und keine weiteren Korrekturen erhalten. Was meinen Sie dazu?
Dr. Gero Tacke: Ich würde die Methode nicht unbedingt empfehlen, vor allem nicht mit lese- rechtschreibschwachen Schülern. Wer nach der Methode vorgeht, sollte darauf achten, dass die schwachen Schüler von Beginn an eine zusätzliche Förderung erhalten.
Stefanie Rietzler: Sie haben eine ganze Reihe von Fördermaterialien entwickelt. Worauf haben Sie bei der Konzipierung geachtet?
Dr. Gero Tacke: Mir war besonders wichtig, dass die Übungsmaterialien gut handhabbar und vor allem wirksam sind. Um eine möglichst große Wirksamkeit zu erzielen, habe ich darauf geachtet, dass die einzelnen Übungen den Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung entsprechen.
Stefanie Rietzler: Was würden Sie Eltern raten, die bei ihrem Kind Lese- und/ oder Rechtschreibprobleme entdecken?
Dr. Gero Tacke: In einem ersten Schritt empfiehlt sich eine professionelle Diagnose. Sodann sollten sich die Eltern gründlich informieren, welche Fördermöglichkeiten am ehesten zum Erfolg führen. Leider gibt es auf dem Gebiet der Lese- Rechtschreibförderung eine große Zahl von sinnlosen Konzepten, mit denen nur wertvolle Zeit vergeudet wird.
Über Dr. Gero Tacke
Dr. Gero Tacke studierte Psychologie, Pädagogik und Philosophie. Er war Forschungsassistent an den Universitäten Heidelberg und Braunschweig und arbeitete später als Schulpsychologe mit dem Schwerpunkt Lese-Rechtschreibschwäche. Seine Förderprogramme für den Einsatz in der Schule und zu Hause erfreuen sich großer Beliebtheit.